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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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um den gleichen Betrag blühender werden sollen, den er über das von der Blockade geforderte Maß hinaus hungerte. Eigentlich fühlte er sich auch ganz wohl. Die Kanonen erwarteten ihn täglich, nur Montags nicht, weil an diesem Tag militärische Mitteilungen der vorangegangenen Sonntagsruhe wegen ausfielen. Als er eines Nachmittags heimkehrte, erschrak er beim Anblick eines Kuverts, in dem er schräg von weitem den Gestellungsbefehl spürte. Anfang September, das dritte Kriegsjahr war abgelaufen. Auf dem Zettelchen wurde festgestellt, daß er in fünf Tagen pünktlich im Hof des Bezirkskommandos zum Abmarsch nach K. anzutreten habe, wo er der Fußartillerie zugeteilt war. Die Festung K. lag eine Eisenbahnstunde von F., Ginster kannte die Stadt. HerrValentin hatte gerade in der vergangenen Woche ein neues Reklamationsgesuch eingereicht, das besonders sorgfältige Gründe enthielt, um nicht merken zu lassen, wie grundlos es war. Keine Fabrik mehr zu bauen, Direktor Baum von Granaten behütet. Stundenlang befand sich Ginster mit dem Zettelchen allein in der Wohnung, schönes Wetter, Onkel, Tante, Mutter auf Ausflug. »Man muß das bißchen Sonne benutzen«, hatte die Tante gesagt. Sie liebte die Natur auch im Krieg, so tröstlich. Der Onkel war seit kurzer Zeit pensioniert; dreißig Jahre im Amt. Er ging langsam über die Straße. Längst wurden ihm die Aufwendungen im Haushalt verheimlicht, da ihn das kleinere Einkommen allzusehr bedrückte. Hin und wieder verzichtete er auf den gewohnten Caféhausbesuch. Immer noch ins Archiv. Ein doppeltes Schellen kündigte die Rückkehrenden an. Die Tante schellte stets zweimal, damit ihr oben gleich aufgemacht werde. Schon unterhalb der Treppenpodeste begann sie zu erzählen; wie anders draußen im Freien, alles nach außen, auch Ginster, ist fürs Abendessen Suppe gewärmt. Der Mutter flogen die Haare, rot, ohne Atem. Das Zettelchen. Plötzlich vorhanden, ein Stückchen Papier. Die Suppe war völlig vergessen, als habe man sich nicht während des Ausflugs auf sie gefreut. Der Onkel kam über den Flur. »Du hast es mir nie glauben wollen«, sagte er zur Tante, »daß in den schlimmsten Zeiten der französischen Revolution das Alltagsleben ruhig weiterging. Da siehst du es nun.« Er war in seiner Arbeit gerade bis zur Revolution vorgerückt, mit der die letzte Abteilung des Werks anheben sollte. Aus ihrem Sprechbedürfnis heraus sprang die Tante in voller Fahrt von einem unfertigen Satz zum nächsten über, den sie ebenfalls vorzeitig verließ. Der Boden war mit Satztrümmern übersät. Schweigend holtedie Mutter Servietten. Die Suppe roch etwas angebrannt, schmeckte aber gut.
    »Die Gründe des Großen Kriegs«, so hieß ein Vortrag, der am Tag darauf stattfinden sollte. Schon gleich nach seiner Ankündigung – lang vor dem Eintreffen des Gestellungsbefehls – hatte sich Ginster eine Karte besorgt, weil er die Gründe immer noch nicht kannte. Er ging auch gerne zeitig zum Zug, so oft er verreiste. Vielleicht erfuhr er die Gründe im Vortrag. Professor Johann Caspari, der Redner, war durch ein Buch berühmt geworden, das er sofort nach Ausbruch des Kriegs zu seiner Verherrlichung abgefaßt hatte. Ohne das Buch gelesen zu haben, bewunderte Ginster doch aus der Ferne die Schnelligkeit der in ihm geäußerten Gedanken. Da er jetzt einrücken mußte, waren die Gründe freilich zwecklos, wenn nicht gar störend für ihn, und er hätte die voreilig gekaufte Karte gewiß verfallen lassen, wäre nicht die Tante der Ansicht gewesen, daß er einer Zerstreuung bedürfe. »Ob du Caspari hörst oder nicht«, meinte sie, »das Zettelchen ist doch nicht zu ändern. Du hörst ihn dir also besser schon an.« Hundertmal dasselbe, immer wieder ein Endchen weiter gebohrt, bis Ginster ausgehöhlt war. Am Abend fuhr er zum Zoologischen Garten, in dem der Vortrag veranstaltet wurde. Gleich hinter dem Eingang lag das weiße Gesellschaftshaus, das den großen Saal enthielt, der aber nur die untere Hälfte des Gebäudes erfüllte. Welcher Bestimmung die oberen Fensterreihen dienten, hatte Ginster niemals ermitteln können. Als Kind, ganz früher, war ihm das Gebäude ein Geheimnis der Erwachsenen gewesen, die durch die Vorfahrt ein- und ausgingen, eine lange Front ohne Tiefe, an der er achtlos vorbeizog zu den Papageien, hinter denendann die Eisbären kamen, die Känguruhs und die Vögel mit den dünnen hohen Beinen. Manchmal hatte ein Papagei Joko gesagt. Zwischen den Käfigen führten künstliche

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