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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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angebotenen Keks. Die Zutaten stammen vom dritten Schulfreund, dachte sich Ginster. Die gewölbten Knie Valentins, die gegen ihn vorstießen, schwollen perspektivisch viel zu riesenhaft an. Auch Berta war fremd geworden, ein Zeitschriftenbild mit Schnörkeln dahinter. Wie nachträglich aufgemalt, hoben sich die Flächen der halbgeöffneten Flügeltür von dem dunklen Grund des Nachbarraums ab. Er war holzgetäfelt und besaß eine ansehnliche Tiefe. Wo lag das Hinterzimmer, Ginster hatte die Richtung verloren. Das Haus war von außen ein winziges Häuschen und quoll innerlich über von Räumen. Überall die Tapeten aufgesprungen, in den Füllungen die Risse. Mitten unter den verfallenen Räumen schwebte jetzt Ginster in einem rosigen Kristall ohne Alter. Nach einem Geräusch aus der Ferne zu schließen, verließ Rollhagen das Büro. »Laß doch, Berta«, sagte Herr Valentin. Es schneite. Auf der Treppe bemerkte Ginster, daß er zu spät zum Essen kam, wenn er sich nicht beeilte. Vor lauter Hast glitt er mehrmals aus in dem Schnee.
    Im darauffolgenden Sommer reihten sich die militärischen Musterungen in immer geringeren Abständen aneinander. Zuletzt wurde Ginster als k. v. anerkannt, eine Abkürzung, die kriegsdienstverwendungsfähig bedeutete; obwohl er sich im Lauf der Jahre nicht im geringsten verändert hatte. Der körperliche Zustand der Gemusterten schien sich nicht aus ihrem eigenen Befinden zu ergeben, sondern aus dem der Heere. Jene wurden um so gesünder, desto schwächer diese sich fühlten. Seines Herzens wegen, das seit dem Gutachten von ProfessorOppeln vor nun knapp zwei Jahren eine gewisse Aufmerksamkeit beanspruchen durfte, hatte man Ginster der Artillerie zugeteilt, deren Kanonen angeblich weniger anstrengend als lange Fußmärsche waren. Wenn er den Erzählungen Eingeweihter lauschte, dachte er es sich sogar mitunter ganz hübsch, in der Nähe von Geschützen zu leben. Die Kriegstauglichkeit schloß seine weitere Reklamation von Rechts wegen aus. Daß sie dennoch von Mal zu Mal glückte – für kürzere Fristen freilich als zuvor –, war der Geschicklichkeit zu danken, die Herr Valentin in der Abfassung solcher Schriftsätze mittlerweile erlangt hatte, und der immer noch nicht beendeten Baumschen Granatenfabrik. In dem Backsteinbau Beilsteins wurde bereits Leder erzeugt. Auf große Waggons verladen, rollte es durch den Wald. Auch Ginster wäre mitunter am liebsten weggerollt, fort an die Front, wo er zum mindesten der Ungewißheit entging, in die ihn sein Zwischenzustand versetzte. Die Gefahr, die von den häufigen Fliegerangriffen drohte, beachtete er kaum. Er wunderte sich eher, daß Offiziere, die aus Berufsgründen mutig sein mußten, sofort nach Empfang der Alarmsignale in die Keller flohen. Wie Hay ihm erklärte, war der richtige Mut an Überlegung geknüpft. Ginster zog einen Mut vor, dessen Plötzlichkeit gar nicht die Zeit ließ, wieder ängstlich zu werden. Bei Gewittern bangte er stets in der Pause zwischen Blitz und Donner. Blieben die Flieger aus, so hörte er zu ebener Erde Buchstaben schwirren. K. a. h. g. v. u. auf der Straße und in den Cafés. Die Buchstaben hatten in jeder beliebigen Zusammenstellung einen militärischen Sinn. Ihre Nennung in Gesprächen genügte, um die Menschen über sich aufzuklären, manche bestanden nur noch aus solchen Zeichen. Ginster gefiel sich darin, sie solange durcheinanderzuschütteln, bis Unmögliches sich ergab. G. v. K. hätte besagt: Garnisondienst draußen im Krieg. Vielleicht gab es Mischungen dieser Art wirklich. Jedenfalls waren alle Leute immer über irgend etwas unterrichtet, was Ginster höchstens bei Gelegenheit einmal erfuhr. Ein Geschäftchen in der Altstadt, das Schweizer Stumpen führte, fand er allein. Er kaufte die Stumpen in großen Portionen und stapelte sie zu Hause auf, billige Zigarren, die qualmten. Da seine Besuche bald das Mißtrauen des Ladeninhabers erweckten, mußte er die Fristen zwischen ihnen verlängern. Die noch verfügbaren Stumpen gehörten zu gleichen Teilen der Allgemeinheit. Wurden von ihr auch die meisten Tätigkeiten überwacht, so konnte sie doch nicht das Hungern verwehren. Durch einen begrenzten Nahrungsentzug wollte Ginster sich allmählich verringern aus Unlust am Krieg. Einige angesehene Ärzte versicherten übrigens, daß die der Bevölkerung auferlegte Hungerblockade gesundheitlich segensreich sei. Sie standen im Dienste der Allgemeinheit wie die Stumpen. Nach ihrer Lehre hätte Ginster genau

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