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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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ausfegen.«
    »Aber nein.« Ginster begriff nicht. »Mit der Zahnbürste?«
    »Allerdings.«
    Die Marschordnung hatte sich etwas gelockert, es wurde geraucht und geschwatzt, viele traten für einen Augenblick aus. Daß das Austreten nächst dem Essen eine besonders große Rolle bei den Leuten spielte, war Ginster schon häufig aufgefallen. Mit der Zahnbürste – so ein feines Instrument über den Planken, vielleicht gar Pebeco zum Fugen, der ganze Mund auf der Erde. Sie schienen umgekehrt zu sein, wenigstens schaukelten die Flußpartien auf der anderen Seite und drangen mehr und mehr zwischen den Karabinern durch. Auch sonst trafen versprengte Teile zusammen, die offenbar zueinander gehörten: Felder, Dorfrauch, einzelne Bäume. Als seien sie an Gummischnüren befestigt, die über Gebühr ausgedehnt worden waren, so schnappten sie jetzt plötzlich zurück und verschmolzen zu einer Masse, deren Zähigkeit mit jedem Schritt wuchs. Das Vordringen wurde immer schwerer. Lahm taumelten die Karabiner auf und ab, rechtes Bein, Straße, linkes Bein, Straße, ja was ach schon, die Landschaft wich nicht zur Seite, im Gegenteil, sie zog sich breit auseinander, recht breit, wie ein grinsendes Maul. Lauter Streifen, gelb braun lang flach gedrückt, wir sind einmal so, Ginster glaubte in einen Zerrspiegel zu sehen, der unausgesetzt wippte, wir gehen nicht fort.
    »Singen.«
    Der Ruf kam von links vorne. Wirklich waren auch ein paar Stimmen an der Spitze zu hören, aber die meisten Leute gingen stumm weiter, jeder für sich, ohne auf die Nebenmänner zu achten. Die Müdigkeit hatte sie in Einzelzellen gesperrt. Mögen sie singen, dachte Ginster, ichbin in der Schule vom Singen dispensiert gewesen. Hinter dem Hügelrand sahen die Domtürme hervor, weg waren sie. Auf und ab wie die Beine.
    »Singen. Ich habe Singen befohlen.«
    Der Vizefeldwebel hatte den Befehl gebrüllt. Singen befohlen? Ginster erschrak, seine Beine waren zwei fremde Stöcke, die er noch mit dem Karabiner schleppen mußte. Gewiß hatte ihm der Schaffner damals auf der Plattform das Pfeifen verboten, gewiß, zu schweigen war möglich – aber die Stimme herauskommandieren aus dem Schlund, wenn sie nicht wollte, die Töne antreten lassen, marsch, marsch, zur Latrine, als ob sie laufen, sich hinlegen und wieder aufspringen könnten wie Soldaten … Kein schönrer Tod ist in der Welt, Als wer vorm Feind erschlagen … Göbel sang beflissen wie ein Flügelmann, andere folgten, nicht alle zum Glück, ein paar Lichtungen waren ausgespart. In der einen verschwand Ginster ungesehen. Nicht singen, die Lippen zusammen. Die Böschungsmauer kroch spitzwinklig aus der Erde.
    »Wollt ihr wohl endlich singen. Ich werde euch die Zähne auseinanderreißen.«
    Vizefeldwebel Leuthold näherte sich Ginsters Querreihe, schon spürte ihn Ginster im Raum. Was sang nur Göbel so schallend, er hätte zweimal Platz in der Stimme gehabt. Der Vizefeldwebel musterte die Zahnreihen, ob sie schnell genug auf und ab marschierten. Kein schönrer Tod. Linkes Bein und rechtes Bein marschierten getrennt; wie im Zirkus, mit den Händen einzeln weiter zu schieben. Seinen eigenen Tod besingen – Ginster erfaßte erst jetzt den Sinn, Gesangstexte verstand er immer so schwer. Er wollte nicht sterben, noch dazu hier auf freiem Feld. Als wer vorm Feind erschlagen, um keinen Preis singen.
    »Singen, Kerl. Sie können ja auch sonst das Maul aufsperren und auf mich schimpfen.«
    Der Vizefeldwebel hatte den Raum weggefegt und sich dicht an Ginster gepreßt, eine Riesenzahnbürste wie auf einem Dachplakat, die ihm mit ihren Borsten ins Gesicht fuhr, immer hin und her, und zugleich drückte von unten der Boden links und rechts gegen die Füße, jedesmal etwas fester, bald gingen sie gar nicht mehr hoch. Vielleicht wären die Fußlappen doch praktisch gewesen. Ginster bewegte die Zahnreihen auf und ab, durch die Querreihen hindurch sah der Vizefeldwebel ihm zu. Wer hatte ihm die abfällige Bemerkung beim Karabinerputzen neulich hinterbracht. La – la – la – la – nur nicht den Tod singen. Die Leute sangen so laut, daß der Vizefeldwebel die Lalas nicht merkte. Wenn er zwischen die Zahnreihen geraten wäre – la – la – la, aber er eilte schleunig wieder nach vorne. Unter Umständen hing Morck mit ihm zusammen. Von allen Seiten kamen Häuser herbei, die sich nicht fernhalten ließen, obwohl sie eigentlich am Gesang hätten abprallen müssen. Sie legten sich wie der Vizefeldwebel auf Ginster. Die Lalas

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