Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
gerade das Wecken besondere Zartheit erforderte. Die Kälte im Toilettenraum, draußen stockfinster. Hastig den Kaffee herunter, als warte der Feind am Portal. Auf der Straße waren die Unteroffiziere ins Pflaster gerammt. Eins – Zwei – Drei – Vier – Eins – Zwei – – Vier – Eins, immer länger im Dunkeln. Noch einmal, das Drei war unhörbar gewesen, ein lautes Drei, alle wollen das Drei hören. Ginster fiel auf die Eins, eine Zahl, die ihn stets besonders erregte, weil sie an der Spitze der übrigen stand. Man hatte seine Ziffer dem Nebenmann ins Ohr zu brüllen, der dann die eigene weiter beförderte. Wenn wenigstens über die Vier hinausgezählt worden wäre. Leise sagte Ginster fünf, sechs, sieben vor sich hin und stahl sich geradeaus ins Freie. Er glaubte einer Irrenanstalt entsprungen zu sein. Warum so früh aus den Betten gerissen, eine Stunde später hätte reichlich genügt. Daß man nicht nur nachts vorhanden sein, sondern überdies sich selbst numerieren mußte, war zuviel verlangt. Wurden aber schon Zahlen genannt: warum nicht oben im Saal, der noch die Wärme von gestern enthielt. Die Leute schlotterten, und ein heller Hauch stand vor jedem Mund. Eins – fast hätte Ginster seine Ziffer verfehlt. Drei – Vier – Eins – Zwei – sie kamen nicht aus dem Gitter heraus.
    Um den Zahlen zu entrinnen, meldete sich Ginster einige Tage darauf in aller Frühe krank. Obwohl ihn der häufige Körpergebrauch gesundheitlich eher gestärkt hatte, war er vom Hungern so mitgenommen, daß er eine natürliche Schwäche verspürte, die den Durchbruch der Gesundheit hintertrieb. Auch war sein Herz immer noch von Professor Oppeln bescheinigt. Ein anderer Mann, der sich ebenfallskrank gemeldet hatte, klagte über Fußbeschwerden, ein gewöhnliches Außenleiden, das Ginster nicht besonders hochzuschätzen vermochte. Lange nach dem Abmarsch der Trupps wurden die beiden von dem diensthabenden Unteroffizier zur Kaserne geführt. Auf dem Weg fühlte sich Ginster innerlich angespannt, da er ein Gespräch erwartete, das sie menschlich näher brächte; sie gingen ja bloß zu dritt, und auch die Krankheit war eigentlich unmilitärisch. Aber der ihm übrigens kaum bekannte Vorgesetzte verhielt sich so förmlich, als sei ihm ein ganzer Zug anvertraut. Wenn er sich allein hätte eskortieren müssen, wäre er wahrscheinlich sein eigener Untergebener gewesen. Die Strenge einer solchen Dienstauffassung erinnerte Ginster an manche Kriegsgeschichten, in denen sterbende Soldaten noch vor dem Hinscheiden ihren Leutnant zu grüßen baten. Oben in der Kaserne erfuhr er gleich eine Enttäuschung: statt sofort dem Arzt unterbreitet zu werden, wurden sie vom Unteroffizier in der Schreibstube abgeliefert. Mehrere Soldaten unterhielten sich über die Pulte hinweg, beschrieben sauber liniierte Bögen und erhoben sich in kurzen Abständen, um ihre Meldungen zu erstatten. Der eine von ihnen nickte Ginster zu. »Bin dir in F. einmal begegnet.« – »Weiß wohl«, erwiderte Ginster mit der Sicherheit eines alten Bekannten. Früher hatte er Schreibbüros immer verachtet, jetzt wünschte er selbst, schreiben zu dürfen, die Soldaten waren in der schön geheizten Stube aufgegangen und blühten unbekümmert wie Zierpflanzen im Treibhaus, die der Gärtner täglich begießt, während auf dem Kasernenhof draußen das Unwetter tobt. Feldwebel Künzelmann erschien. Seinem Gesicht, das an Regelmäßigkeit die Uniform übertraf, war ein gewichstes Schnurrbärtchen aufgeheftet, dessen zwei Hälften die gleiche Anzahl von Haaren enthielten.Von oben bis unten frisch lackiert, die Backen mit Karminrot betupft. Er hätte auf einem Holzpostament vor einem Kindergarten stehen und die Arme im Wind bewegen können. Ginster fürchtete ihn nicht sehr, weil er das deutliche Empfinden hatte, daß der Feldwebel sich seiner Symmetrie wegen in acht nehmen müsse. Ihre Verletzung wäre auch höchst bedenklich gewesen, denn bei Künzelmann liefen sämtliche Fäden zusammen. Jedesmal noch hatte ihn Ginster aus der Ferne bewundert, wenn er nach Dienstschluß in das Karree getreten war, das Notizbuch zwischen den Rockknöpfen hervorgezogen und den folgenden Tag auf die Minute vorausbestimmt hatte. Ohne ihn wäre der Tag schon in seinen Anfängen stecken geblieben. Hier in der Schreibstube kam Ginster zum erstenmal einzeln mit Künzelmann in Berührung. Freilich erkundigte sich der Feldwebel nicht, wie er gehofft hatte, nach seinem Befinden, sondern stritt das Befinden

Weitere Kostenlose Bücher