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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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überhaupt ab. Kanoniere haben kein Befinden zu haben. Mit seinem Leidensgefährten wurde Ginster ins Revier geschickt. Nirgends ein Arzt im Revier, nur Gefreite mit Äskulapstäben und in der Mitte eines geräumigen Zimmers der Sanitätsunteroffizier, der auf dem Stuhl klebte, so vollgefressen hatte er sich. Aus dem Verhör, das er mit Ginster anstellte, ging hervor, daß er, zum Unterschied von Feldwebel Künzelmann, Krankheiten nicht allein für unmöglich hielt, sie vielmehr überdies persönlich übelnahm; als werde durch ihre Behauptung sein froher Leib verhöhnt. »Der Arzt …«, war alles, was Ginster anzubringen wußte. Er kam sich wie ein Bettler vor, dem die Passanten jede Gabe verweigern, weil sie ihm das Elend nicht glauben. Im Vorzimmer wurde ihm auf seine Fragen von einem Mann erklärt, daß sich der eigentliche Arzt niemandem zeige. »Ja, warum sind wir denn hier?« EineAuskunft war nicht zu erlangen. Der Medizingeruch und die Hitze erstickten allmählich das Bewußtsein, und auf dem Weg zum Berner Hof entsann sich Ginster nur noch, daß ihm ein Ruhetag zudiktiert worden war. Für einen solchen Aufwand an Krankheit war das Ergebnis gering.
    Vordermänner, Hintermänner, lauter Beine geschleudert und die Augen nach beiden Seiten geworfen – in Kolonnen zogen sie zu einer Marschübung früh aus der Stadt. Ab und zu klirrten die Scheiben. Ein Trupp Sanitäter kam vorbei, Ginster verachtete sie ihrer mangelhaften Schritte wegen, das Häufchen war völlig ungeschult. Er selbst hatte seinen Platz in der Mitte der Querreihe erhalten, lieber wäre er am linken Rand neben Knötchen gegangen. Der Führer ihrer Abteilung war Vizefeldwebel Leuthold. An der Spitze des ganzen Zuges ritt, wie ihm erzählt wurde, ein Offizier, aber man konnte hinten nicht erkennen, was sich vorne begab, nur die Passanten überblickten den Zug. Auch sonst sah man meist nicht mehr als den Rücken des Vordermanns. Neben sämtlichen Rückenflächen hingen über die rechte Schulter Karabiner herab, die indessen nicht schießen sollten, sondern nur spazieren geführt wurden, damit sich die Leute an ihre Gesellschaft gewöhnten. Es war auch nötig. Obwohl Ginster natürlich wußte, daß Trambahnen und Wagen, die den Zug zu unterbrechen gewagt hätten, sofort gemaßregelt worden wären, bedeutete für ihn die Folgsamkeit, mit der sie vor ihm stillstanden, doch einen gewissen Triumph. Zu seinem Bedauern wurde die hohe Böschungsmauer, die sie bisher immer begleitet hatte, durch den Anstieg der Landstraße genötigt, in die Erde zu schlüpfen. Nun marschierten sie frei in die Luft. Beine und Karabinerläufe schlugen so unwiderstehlich auf die Landschaftlos, daß sie zersprang. Ein Stück Fluß splitterte ab und fiel in den Himmel hinein, Felder wurden durchschnitten, aus den Pfützen flog Wasser hoch. Vor ihnen tauchte ein Regiment Hopfenstangen auf, das den Weitermarsch verhindern wollte. Die Hopfenstangen vergrößerten sich schnell, lange, hagere Dinger, um die sich gefährliche Spiralen wanden, aber die Beine fuhren mitten unter sie und warfen sie in den Fluß. Die Beine waren allein auf der Welt. Sie rissen den Fußboden in Fetzen und bewegten sich ohne Unterlage fort. Oft marschierten sie über den Wolkenhimmel, dessen blaue Löcher sie durchwateten. Da sie immer nur geradeaus gingen, wurde je nach ihrem Bedarf die Erde gedreht. Das einzige, was außer ihnen übrig blieb, waren die Rücken und Hälse, die als Prellböcke dienten. Auf und ab, auf und ab, Ginster zerfiel in zwei Teile, rechtes Bein, linkes Bein, rechts und links, der Kopf davon, weiter gehn, nichts geschehn. Wenn es ihm einmal glückte, aus den Beinen zu springen, geriet er in den Karabiner. Wie ein Streichholzmännchen, aus drei Strichen gebildet. Die Karabinerläufe neben und vor ihm schüttelten sich und blitzten ihn an. Mitunter legten sie sich quer und verschränkten sich, als seien sie ein Gattertor, das ihm den Ausweg abschneiden solle. Er ging und ging, und das Gatter rückte ebenfalls vor, auf der Weide waren die Zäune doch unbeweglich, ganz verrückt eigentlich, aber vielleicht ging er gar nicht, sondern stand fest, und nur die Umgebung schwankte hin und her, rechtes Bein, linkes Bein, auf und ab, schöner Spaß, scheußlich, was.
    »Wenn wir jetzt noch den vollen Affen auf dem Buckel hätten …«, sagte Schalupp.
    »Ihr habt es lange gut«, warf Knötchen dazwischen, »früher war die Disziplin viel strenger. Wir mußten mit der Zahnbürste die Stube

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