Ginster (German Edition)
waren überflüssig geworden, denn das ganze Pflaster krachte mit. Zuletzt dröhnte es ohne Inhalt weiter im Takt. Der Vizefeldwebel war jetzt ein Feind. Noch um den Marienhof herum, endlich.
Im Saal oben fiel Ginster ein, daß Ahrend am Marsch nicht teilgenommen hatte. »Ist seit zwei Tagen versetzt«, sagte Schalupp. Still fortgeweht. Der Bruder hatte ihn geholt.
IX
»Ja, gewiß, das Geschlechtsleben, das wir führen, wird genau verfolgt. Alle acht Tage haben wir zur Untersuchung im Revier anzutreten.«
»Das müssen sie Hay genau erzählen«, sagte Müller zu Ginster. Sie saßen unter dem Oberlicht in ihrem Café. Ginster war den Sonntag über auf Urlaub in F. und hatte sich mit den beiden am Frühnachmittag verabredet. Hay grinste gespannt.
»Hätten wir uns noch in einer langen Reihe auszurichten wie sonst bei Paraden, so wäre der Vorgang nicht ohne Reiz. Aber wir ziehen einer hinter dem andern auf dem Korridor am Sanitäter vorbei, der auf einem Stühlchen sitzt. Damit kein unnützer Aufenthalt entsteht, knöpft sich der Hintermann schon auf, wenn der übernächste Vordermann an der Reihe ist. Zu sehen ist ungeachtet der Vorbereitungen nichts. Bei dem nahen Abstand sind nämlich die Knöpfe zu hoch, und außerdem schiebt sich der Rücken dazwischen. Wer als erster passiert, hat zwar die Aussicht frei, kann aber höchstens sich selbst erblicken. Auch der Sanitäter kommt, streng genommen, zu kurz. Denn von seinem Stühlchen aus hat er nur gerade die entblößte Körperstelle vor seinen Augen, ohne daß er ihren lebendigen Zusammenhang mit dem ganzen Menschen zu erfassen vermöchte. Wir gehen ja aufrecht an ihm vorüber, während er, wie gesagt, auf dem Stühlchen sitzt, unmittelbar gegenüber unserer Mitte. Genausogut könnte er ein Präparat der betreffenden Teile betrachten.Trotz ihrer Enthüllung bleiben sie also gewissermaßen unsichtbar und rufen jedenfalls nicht die Wirkung hervor, die sich manche erwarten. Im übrigen enttäuschen die Paraden auch darin, daß sie stets so ergebnislos verlaufen wie die Zollrevisionen an der Grenze; wenigstens bin ich noch nie einem Schmuggler begegnet. Dabei sind doch sicher eine Menge Geschlechtskranker in unserem Zug. Warum sie sich von der Untersuchung drücken, verstehe ich nicht, es ist ja keine Schande, geschlechtskrank zu sein. Andere wären froh, wenn sie ins Lazarett müßten statt an die Front.«
»Die Leute kommen eben nicht nur ins Lazarett«, erklärte Hay, »sondern werden auch ihres Leichtsinns wegen bestraft.«
»Aber ihre Leiden sind doch privat.«
»Strafe muß sein.«
Seinem strengen Ton war anzumerken, daß er sich für den Gesundheitszustand der Heere verantwortlich fühlte. »Ich würde mich außer dem Lazarett auch noch bestrafen lassen«, sagte Ginster nachdenklich. Hay schwieg, brütete über die Paraden. Müller deutete auf ihn: »Er gerät gar nicht in die Gefahr, angesteckt zu werden.« »Wenn Sie glauben, ich wüßte nicht, worauf Sie anspielen«, wandte sich Hay an Müller, »Sie sind wirklich ein Ferkel.« Immer dasselbe. Joko.
»Vor ein paar Wochen«, sagte Ginster, »war ich noch bei Professor Caspari im Zoologischen Garten. Ganz ohne Uniform.«
Hay lebte auf: »Das Känguruh hat gestern neue Junge gekriegt.« Er verkehrte mit sämtlichen Tieren im Zoologischen, weil sie wie die Pflanzen zum Naturreich gehörten und seine Neugierde reizten. Jeden Tag anders, völlig beweglich. In der Unterhaltung hechelte er sie durch:ob sie Fortschritt machten und wie sie sich paarten. Oft gab es kleine Skandälchen. Alles vertraulich. Durch das Känguruh wurde Müller an einen Bekannten im Osten erinnert, der in einer Streichholzschachtel Läuse züchtete, um sich möglichst lang in der Etappe zu halten. »Die Soldaten müssen bekanntlich entlaust sein, ehe sie an die Front dürfen. Jedesmal, wenn der Betreffende mit einem Transport nach vorn geschickt wird, holt er einfach aus seinem Streichholzkästchen die eine oder andere Laus heraus und setzt sie sich an. Dann wird er wieder zurückgeschickt. Die Vorgesetzten wissen nicht, wo er die vielen Läuse auftreibt.«
Ginster hüpfte auf gut Glück ins Gespräch: »Mein Onkel, der leider etwas leidend ist, hat heute früh von einem Neffen aus dem Westen eine Flasche echt französischen Eierkognaks erhalten. Ich kenne den Neffen nicht, es gibt so viele Neffen bei uns, die überall wohnen. Der Neffe wollte dem Onkel eine Freude machen. Woher er nur mitten im Feld bei dem geringen Sold den
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