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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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gesetzt.
    »Gestatten, Herr Leutnant … wenn Sie vielleicht zuerst …«
    Der Leutnant dankte, nahm an. Während er eingeseift wurde, genoß Ginster seinen Triumph. Die Anrede Sie, deren er sich dem Offizier gegenüber geflissentlich bedient hatte, war nicht beanstandet worden. Er hatte wie ein Privatmann zum Privatmann gesprochen, eine gleichberechtigte Gefälligkeit sozusagen, durch die der Krieg aus dem Lokälchen expediert wurde. Es war übrigens gar nicht so winzig. In seinen Spiegeln hingen die weitgespannten Alleen der Beleuchtungskörper, die sich bis zum fernen Fluchtpunkt erstreckten, und mit ihnen verkürztensich die Bosketts der Flaschen und Fläschchen. Sie bildeten zahllose Nischen, die sich nach den Alleen zu öffneten. »Haarschneiden?« Ginster nickte nur, er wollte so lang als möglich in der heißen Kunstlandschaft bleiben, die immer neue Durchblicke bot. Aus der Betrachtung eines Etiketts, dessen verschnörkelte Schriftzüge schon allein wohlriechend waren, riß ihn die Bemerkung des Friseurgehilfen, daß öfteres Schneiden die Haare stärke. »Bitte, nur einmal«, erwiderte Ginster, der es für untunlich hielt, daß die Haare zu viel Kraft gewönnen. Sie sollten dünn werden wie er. Noch ehe er sich wieder zu den Etiketten geschlagen hatte, regnete es plötzlich aus einer Duftwolke auf ihn nieder. Die Landschaft lag unversehrt im Schimmer der Beleuchtungsflucht, sein eigener Kopf war eine einzige Pfütze. Neue Besucher tauchten auf, kein Platz in dem Stübchen. Die Kälte draußen. Zu seinem Trost trug er alle Gerüche mit sich fort.
    Der Besuch beim Friseur war eine Ausnahme gewesen. Gewöhnlich ging Ginster zur Abendessenszeit ins Café Königshof gegenüber der Bahn, wo er annähernd zwei Stunden bis zum Zapfenstreich verbrachte. Er las dort bei einer Tasse Kaffee die Zeitungen, die mit sämtlichen Worten fürs Vaterland kämpften. Wenn er sich in ihnen verzögert hätte, wäre er nicht lebendig herausgekommen. Regelmäßig um die achte Stunde versammelte sich ein Stammtisch älterer Herren, die sich in einer Längsreihe anordneten, mit dem Gesicht gegen Ginster zu. Meistens beobachteten sie ihn, ohne zu sprechen. Das Gesicht eines der Herren war eine brüchige Steinplatte, auf der sich die Reste einer Inschrift erkennen ließen. Er verhielt sich denn auch mit der Würde eines archäologischen Fundes, um dessen Enträtselung sich die Gelehrten noch mühten.Möglicherweise war er eine Fälschung. Am lebhaftesten benahm sich ein Glatzköpfchen, das aus dem Anzug hervorguckte wie ein Ei aus dem Becher. Seinen wäßrigen Äuglein nach zu schließen, mußte das Ei verdorben sein. Es hüpfte im Becher auf und ab und quietschte dabei in Mißtönen, die Ginster schon einmal auf einer Liebhaberbühne gehört zu haben glaubte, als es die Darstellung eines komischen Alten gegolten hatte. Der Westenausschnitt war von zwei weißen Streifen umsäumt. Das Köpfchen verfügte über einen Witz, den es oft wiederholte. Unmerklich versank es in seinem Eierbecher und erzeugte mit einem Instrument, das es stets in der Tasche mit sich führte, unter dem Tisch pfeifende Geräusche, die von einer Maus hätten herrühren können. »Such’ das Mäujen«, rief es dann einem Hund zu, den es nicht gab. Ein vollständiges Mäuschen war für den zahnlosen Mund zuviel. Mit Ausnahme der Inschrift, die sich unverändert bewahrte, wackelte der ganze Stammtisch vor Lachen über die erdichtete Jagd. Abend für Abend begab sich Ginster in den Toilettenraum des Cafés. Er war mit Marmorplatten ausgelegt, auf denen kleine Topfpflanzen standen. Obwohl seine schöne Ausstattung ihre Anziehungskraft auf Ginster nicht verfehlte, suchte er ihn doch hauptsächlich der Personenwage wegen auf, die in ihm beschäftigt war. Wenn er oben in die Wage ein Zehnpfennigstück warf, spuckte sie unten auf einem grünen Billettchen sein Personengewicht aus, das freilich auch die Uniform und die Schuhe umfaßte. Es war in Kilogramm ausgedrückt. Zu Vergleichszwecken hob Ginster die Billettchen auf und ersah aus ihnen mit Genugtuung, daß die Ziffern sich täglich etwas verringerten. Hätte er sie nach Art der Fieberkurven graphisch dargestellt, so wäre eine stetig fallende Linie entstanden, die allmählich indie Null einlaufen mußte. Wider Erwarten stieg die Kurve einmal an. Um sie sich günstig zu stimmen, schüttete er dem einen Zehnpfennigstück zwei weitere nach, aber der mechanische Zusammenhang erwies sich als unbestechlich. Da die Wage

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