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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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eigentlich ein Glaskasten war, der sich in einem Altstadtlokälchen zu F. befand. Der Glaskasten hing mit einem Orchestrion zusammen, auf dem ein gemalter Schweizer Wasserfall rauschte. Begannen die Militärmärsche ihn zu übertönen, die mit der Gewalt von Lawinen aus dem Innern des Orchestrions donnerten, so gingen die Lichter im Sälchen an, und die Herren und Damen drehten sich in und vor den Spiegeln zu unhörbaren Walzerklängen im Kreis. Später verfinsterte sich das Sälchen wieder und lag wie ausgeräumt da, aber wer genauer hinblickte, erkannte im Glaskasten die Puppen, die sich immer während umschlangen. Vielleicht war auch in den Schaufenstern das Fest schon zu Ende, und die Kostüme dämmerten nur noch vor sich hin. Hoch in der Luft thronte ein steinernes Labyrinth, der eine Domturm, der von den Pfeilern des Langhauses überschnitten wurde, auf das ein Gäßchen stieß, das in eine Riesenwand drang, die den Himmel bedeckte. Das Portal in ihrer Mitte öffnete sich ab und zu und verschlang zum Zeitvertreib ein paar Frauen und Kinder. Die Beute war nur gering. Von einem Konditoreischild im Gäßchen angelockt, betrat Ginster einen blautapezierten Raum, der mit Damenhüten gefüllt war. Lauter Blümchen auf dem Blau. Er fand unter den Hüten zwischen süß riechenden Schaumtörtchen Platz, einem weißen Gewölk, das fest auf den Tellern klebte, alles ganz schaumig. Unmittelbar neben ihm schaukelten zwei Blümchen. Je länger er die Schaumwolken betrachtete, desto mehr blähten sie sich auf und zogen ihn in sich hinein – aber für übermorgen war das Karabinerscharfschießen angesetzt. Freilich bestand der Schaum nur aus Luftlöchern und würde die Personenwage nicht weiter belasten; vielleicht trieb er sogar wie ein Freiballon in die Höhe. Ginster vergaß seine eigene Anwesenheit über dem Schaum: so locker geronnen, ganz ohne Untergrund, mit vereinzelten Träubchen im Kern. Die Konditorei hieß Riese, fiel ihm ein; sie konnte nicht wohl der Hauptvater des Leutnants sein, sondern höchstens eine Filiale. Zuletzt beschloß er endgültig, auf den Schaum zu verzichten, bemächtigte sich aber dann sofort eines Törtchens, um sich gegen seine Entschiedenheit zu wehren, die ihn zu vergewaltigen drohte. Immer verlangten die Leute, daß man sich für eine Sache völlig einsetzte. Die Masse hatte einen Jungensgeschmack; als sei siebeim Straßenhändler in einer Papiertüte gekauft. Das Papier war gleich mit in den Schaum gearbeitet worden. Eine ungewohnte Müdigkeit lähmte Ginster, die Hüte fingen zu rauschen an, und die vielen Blümchen wogten in einem fort auf und nieder. Während er sich vom Wind an den Fluß jagen ließ, verspürte er einen Hunger, den er vor dem Schaum gar nicht bemerkt hatte. Wahrscheinlich hatte das Törtchen trotz seiner Luftigkeit den Hunger geweckt. Schleunig in den Berner Hof zurück, sonst verwandelte er sich selbst in Schaum. Der dunkle Schlafsaal stand leer, nur aus einer fernen Ecke tönte andauernd ein Gemurmel, das nicht verebben wollte, obwohl es immer gerade zu ersterben schien. Er legte sich halb auf das Bett unter dem seinen, dessen Druck ihn beengte. Kaum schlossen sich seine Augen, als er die deutliche Vorstellung hatte, daß er in einem Zimmer eingesperrt sei. Das Zimmer war, abgesehen von einem großen Spiegel an der Wand, aller Gegenstände beraubt. Nachdem er mehrere Male vergeblich an der Tür gerüttelt hatte, trat er in den Spiegel und befand sich in einer schnurgeraden beleuchteten Allee, auf der er ausschritt, ohne sich je von den Nischen rechts und links zu einer Rast verleiten zu lassen. Die Allee führte nach einer Stadt, deren Straßen er kreuz und quer durchmaß. An einer Nebengasse zauderte er, weil er fühlte, daß er hier einbiegen müsse. Er geht sie zu Ende, steht in einem Hof, sucht sich eines der Häuser aus, das gar keine besonderen Kennzeichen hat, klettert Stiege um Stiege empor, sieht in der Mansardenkammer oben einen Spiegel hängen, begibt sich in ihn hinein und – weilt wieder in demselben leeren Zimmer, von dem aus er die Wanderung begonnen hatte. Hinter ihm die Tür ist inzwischen aufgegangen, eine grundlose Angst hält ihn aber davon ab, durch sie zu entfliehen. Auf seinem gepackten Koffer sitzend, starrt er durch die Tür in einen Schacht, aus dessen Dunkel unvermittelt ein Schrei bricht, der anhält und wie ein entsetzlicher Schatten immer näher kommt. Hooooooh – Morck brüllte im Saal. Er schien sich eine Nase aus rohen Fleischlappen

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