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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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außer dem notwendigen Gewicht auch noch Spiegel und Uhr besaß, ließ sich auf ihrer Plattform schon eine Weile leben. Von dem erhöhten Ort aus überblickte Ginster die Marmorgrotten, in denen der Toilettenmann wohnte. Einem Fremdenführer gleich beaufsichtigte der Mann die ihm anvertrauten Wasserfälle und sorgte dafür, daß alle Sehenswürdigkeiten blinkten. Während Ginster die Personenwage benutzte, verzehrte er gewöhnlich auf einem Schemel sein Abendbrot und spannte ein wenig aus. Er plauderte gern.
    »Schlechte Zeiten«, äußerte er.
    »Aber es gibt doch eben sehr viele Männer«, entgegnete Ginster, »vor allem Soldaten.«
    Der Toilettenmann schüttelte den Kopf: »Es ist nichts mehr mit den Männern. Sie verwahrlosen auch draußen …«
    Ginster wußte nicht, was er meinte. Eines Abends erlaubte sich der Mann angesichts des glänzenden Wandbelags eine Freiheit, die sonst allein den Gästen gestattet war. Die Ungehörigkeit einer solchen Handlung verletzte Ginster, und er ergriff unwillkürlich die Partei des Marmors, den der Mann instand halten sollte. Offenbar verwahrloste der Mann selber. Später erst merkte Ginster, daß der Mann alt war und mitten in seinem unverwüstlichen Marmorgetäfel langsam zerfiel.
    Am letzten Novembersonntag wurde der Mannschaft der übliche Heimurlaub entzogen. Die Strafe war eines Vergehens wegen erteilt worden, zu dem Ginster nichtdas geringste beigetragen hatte. Immer mußte gleich die ganze Gemeinschaft dran glauben; wie bei den Korallen. In einer Versammlung vor einem oder zwei Jahren hatte einmal ein Redner unter Berufung auf das Glück des Gemeinschaftserlebnisses die Anwesenden aufgefordert, ihre Kupfergeschirre und Söhne zum Einschmelzen herzugeben. Jedenfalls schlugen die Gemeinschaften fast stets zum Schaden derer aus, die mit ihnen beglückt wurden. Dennoch wagte Ginster nicht mehr, sichtbar einzeln zu sein. Um den Nachmittag herumzubringen, schlenderte er durch die Stadt. Er war von einem vor einigen Tagen aufgekommenen Gerücht bedrückt, das hartnäckig darauf hinarbeitete, sämtliche Rekruten bald in die Etappe zu befördern. Es hatte bereits durchgesetzt, daß übermorgen ein Karabinerscharfschießen stattfinden und im Lauf der Woche auch die Anprobe der Gasmasken vorgenommen werden sollte. Ganz scharf, mit richtiger Munition. Wenn in der nächsten Zeit nichts geschah, mußte er mit in den Frühling hinein, die zwei Revierbesuche, die er seit jenem ersten noch unternommen hatte, waren völlig erfolglos gewesen. Denke Dir, der Mann von Frau Biehl ist plötzlich gestorben, schrieb die Mutter in einem heute früh erhaltenen Brief, bitte, kondoliere sofort. Dem Onkel gehe es gut. Ein ungemütlicher Wind blies lauter Stäubchen gegen die Augen. Ginster malte sich aus, wie jetzt die Präpositionen aufflogen und Frau Biehl, ein Gestrüpp aus Haaren und Kleidern, schwarz davonsauste. Ob der Onkel über die Französische Revolution hinausgelangen würde, er ängstigte sich um den Onkel. Unterwegs grüßten eine Menge Soldaten, die ihn wahrscheinlich von der Kaserne her kannten. Sie waren froh, wenn sie allein ausgehen durften und sich dann wieder begegneten. In der Regel bereitete es auch den Leuten ein großes Vergnügen, von Berggipfeln auf die Orte zu blicken, aus denen sie kamen. Am liebsten wären sie zugleich oben und unten gewesen. In den Cafés schrien so viele Kinder zwischen den Stühlen und Röcken, daß Ginster zur Straße zurückkehrte, auf der ihn wenigstens nicht das ganze Sonntagspublikum durchfegte. Niemals konnte er behalten, nach welcher Himmelsrichtung ein Wind eigentlich hieß; der Wind hatte doch nicht nur einen Anfangspunkt, sondern wehte auch irgendwohin. Eine Seitengasse lief auf einen Hof aus, an den sich um die Ecke ein zweiter Hof schloß, dessen Häuser, wie Ginster ausdrücklich feststellte, bebaute Hinterhöfe besaßen. Ineinanderschwebende Elfenbeinkugeln – die Stockwerke in den Häusern, in jedem Stockwerk wieder die Zimmer und dann erst die Kinder und Möbel. Scheinbar setzte sich die Entwicklung nach innen bis ins Unendliche fort. Sie vollzog sich bei trübem Tageslicht, die Schaufenster waren noch unbeleuchtet. Hinter ihren Scheiben standen reglos Kostüme in Positur, die nur den Beginn der Vorstellung erwarteten, um die Zuschauer zu blenden. Der Vorhang war zu früh hochgezogen worden. Starr wie das wächserne Ensemble hielten Tanzpuppen still, an die sich Ginster jetzt erinnerte, Herren und Damen in einem Spiegelsälchen, das

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