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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Hauptbahnhofs angelangt, mochten sich auch Passanten und Fuhrwerke dichter gedrängt haben als sonst. Die Störungen waren einkalkuliert gewesen, und Kanäle hatten sich jederzeit geöffnet. In der Kälte begannen die Augen Ginsters zu tränen, und er begriff den Zusammenhang nicht mehr, der zwischen den neun Zentimetern, der Skala auf der Scheibe und dem kleinen Fernrohr bestand, an dem er jetzt drehte, um die Stange zu finden. Eine unbeteiligte Stange – ebensogut hätte die Kanone auf fremde Menschen gerichtet werden können.Schrecken durchfuhr ihn: hier die Kanone und dort die Stange, die, wie er mit dem bloßen Auge bemerkte, fortwährend leicht zitterte – – das war ja wirklicher Ernst. Er zitterte selbst und vermochte in dem Fernrohr nichts zu erkennen, die Tränen rannen auch über das Blickfeld, alles verwischt. Wäre es wenigstens wärmer gewesen, aber wo er nur hingriff, stachen Nadeln nach ihm, und auf der Scheibe hatten sich lauter Körnchen gehäuft.
    »Zivilberuf?« Leutnant Riese stand neben Ginster.
    »Hochbauingenieur.«
    »Dann dürften Sie besser richten.«
    Gerade lief Ginster ein Kältetröpfchen über die Backe.
    »Vielleicht im Frühling …« erwiderte er unwillkürlich.
    Er wollte nur sagen, daß der Frühling seiner Wärme wegen zum Richten geeigneter sei und die Wäsche in ihm an den Stangen hing. Kaum aber war der Frühling aus ihm herausgefahren, als ihm die von Hay angekündigte Offensive einfiel. Die ganze Wärme war also bereits im voraus für den Krieg beschlagnahmt. Der Leutnant hatte sich an seinen früheren Ort zurückbegeben und glänzte freundlich von ferne wie ein Rosinenmann hinter Glas. Es fror immer weiter. Alle Gläser liefen an, und sogar die Sonne beschlug sich; eine absichtliche Kälte, gegen die der Ofen im Schlafsaal nur ungenügend schützte. Man hatte dem Ofen die Verteidigung des Raumes übertragen müssen, weil die Zentralheizung aus Kohlenmangel versagte. War er auch kräftiger als der bei Valentin angestellte, so verlor er sich doch in dem Saal, durch den sein Rohr, eine schwarze Luftschlange, sich auf Umwegen wand. Ob das Rohr wie die Kanone neun Zentimeter betrug, konnte Ginster nicht feststellen. Abends saßen die Leute um den Ofen herum und unterhielten sich über ihn. Vielleicht wäre er eifriger gewesen, wenn dieSaaltüre nicht immer offen gestanden hätte. Die Leute liefen zuviel hinein und heraus. Auch sonst zog es unaufhörlich. Das Militär war völlig durchlöchert, und durch jedes Loch pfiffen Gerüchte. In der Latrine hatten sie ein besonders leichtes Spiel, weil hier die Türen fehlten. Bald sollte die Mannschaft am Abend nicht ausgehen, bald hieß es, sie müsse ein neues Quartier beziehen. Ginster liebte das jetzige nicht, hatte sich aber an seine Fehler gewöhnt. Da er die Gerüchte mehr als die Ereignisse selbst fürchtete, hätte er sich gern vor ihnen versteckt, doch sie erreichten ihn stets, wenn er nicht an sie dachte. Daß sie nicht aus dem Kistchen drangen, war alles. Am meisten verdroß ihn, daß sie immer nur ankamen, ohne woher zu stammen, und sich dennoch häufig bestätigten. In solchen Fällen wurde er den Verdacht nicht los, daß die Gerüchte, wenn sie nur wollten, aus eigenen Stücken Veränderungen herbeiführen konnten. Eines Abends war zu vorgerückter Stunde ausgesprengt worden, Vizefeldwebel Leuthold sei versetzt. Das Gerücht lautete viel zu verheißungsvoll, als daß ihm Kraft zuzutrauen gewesen wäre, und nur aus Müdigkeit ließ sich Ginster von ihm mitschleifen. Während er sich die Annehmlichkeiten eines Dienstes ohne Vizefeldwebel ausmalte, vergaß er den Bettappell, der immer vor dem Schlafengehen stattfand, und begann langsam den Rock aufzuknöpfen. Bei dem Bettappell hatte die Mannschaft in voller Uniform anzutreten, um den Vorgesetzten von ihrer Anwesenheit zu überzeugen. Entkleidete Leute hätte er nicht bemerkt, und außerdem konnte ja in letzter Minute ein Überfall erfolgen. Niemand anders als Vizefeldwebel Leuthold, der doch gerüchtweise nicht mehr zugegen war, erschien zur Abnahme des Appells. In seiner ersten Überraschung glaubte Ginster, der Vizefeldwebel befände sich an zweiOrten zugleich. Hastig suchte er seinen Rock in Ordnung zu bringen, aber Leuthold war schneller als er und kam noch zu einem unausgefüllten Knopfloch zurecht. Man sah ihm an, daß er sich über sein Jagdglück freute. Ein offenstehender Mann ihm ausgeliefert, der Mann, von dem er beschimpft worden war. Unverzüglich verwandelte

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