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Girl

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Titel: Girl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Thomas
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Bescheid weiß. Er pfeift vermutlich ›Ich bin gewöhnt an ihr Gesicht‹ vor sich hin, wenn er morgens seine Visitation macht. Aber, ehrlich gesagt, die Erklärung ist nicht überzeugender als jede andere.«
    Ich giggelte in mich hinein und sagte: »Sie müssen doch zugeben. Klingt irgendwie ziemlich abgedroschen – eine junge Frau und ihr Arzt?«
    »Liebe ist immer abgedroschen«, sagte Jenny. »Total abgedroschen. Nur wenn sie einen selbst trifft, ist man natürlich felsenfest überzeugt, dass es die tiefste, aufrichtigste und einzig artigste Erfahrung ist, die je ein Mensch gemacht hat.«
    »Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn liebe.«
    »Ach, wirklich nicht?«
    Wir plauderten noch eine Weile weiter. Unsere Unterhaltungen sind inzwischen weniger Therapie als ein zwangloses Gespräch unter Frauen. Nach einer Weile sagte sie: »Wissen Sie, ich denke, wir können das Ende unserer Sitzungen ins Auge fassen. Natürlich können Sie weiterhin jederzeit zu mir kommen. Aber für regelmäßige Treffen besteht kein Grund mehr. Ich glaube, viel mehr kann ich nicht für Sie tun.«
    Ich war nicht ganz sicher, wie ich darauf reagieren sollte. Es war gerade so, als ob mein Partner mir den letzten Schubs gegeben hätte. Andererseits hatte sie mir gleichzeitig ein unglaubliches Kompliment gemacht. Und mir war auch klar, dass sie recht hatte. Ich hatte keinen Psychiater mehr nötig.
    »Mir wird etwas in meinem Wochenplan fehlen, wenn ich nicht mehr herkomme«, sagte ich. »Ich weiß, dass ich eigentlich noch ein ziemliches Wrack sein sollte. Aber ich glaube, das bin ich nicht. Vielleicht unterdrücke ich ja auch nur alles.«
    »Ich glaube nicht, dass Sie überhaupt irgendetwas unterdrücken«, sagte Jenny. »Aber es stimmt, dass Ihre Anpassung erstaunlich schnell vor sich ging. Die meisten Patienten, die mit Problemen in ihrer Geschlechterrolle zu mir kommen, sehe ich über Jahre.«
    »Und warum ist das bei mir nicht so?«
    Jenny schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht genau. Ich kann nur vermuten, dass die meisten Leute, die eine Geschlechtsumwandlung anstreben, per definitionem sehr durcheinander sind. Sie leben seit Jahren unter großem psychischen Druck, und sie sind ganz auf ein einziges Ereignis fixiert, das alle Ihre Probleme lösen soll. Eigentlich dürfen wir das ja nicht sagen, aber wir wissen, dass viele nach der Operation entdecken, dass sie genauso unglücklich sind wie zuvor.«
    »Wieso war das bei mir anders?«
    »Weil Sie völlig anders damit umgehen. Sie waren nicht gerade ein zivilisierter junger Mann, aber sie waren psychisch völlig gesund. Deswegen setzten Sie sich mit persönlichen Widernissen so auseinander, wie jede andere psychisch stabile Person das auch getan hätte.
    Es ist wie bei jemandem, der durch einen Autounfall zum Krüppel wird. Er mag zuerst physisch und psychisch am Boden zerstört sein. Aber wenn er widerstandsfähig ist, wird er für sich einen Weg finden. Der Unfall wird dadurch nicht weniger schlimm. Nur zeigt sich daran, dass der menschliche Geist eine schier unglaubliche Kraft besitzt, sich wieder aufzurichten.«
    »So wie ich die Sache sah«, sagte ich, »blieb mir gar keine andere Wahl. Und wenn ich mich schon meinem Schicksal fügen musste, dann bitte richtig.«
    »Eben. Und da Sie über ein klares Konzept der Geschlechterrollen verfügten – vielleicht ein zu klares –, hatten Sie ein genaues Bild Ihres zukünftigen Ichs, nachdem Sie von einem Geschlecht zum anderen gewechselt hatten. Wenn ich über Ihren Fall nachdenke, komme ich beinahe zu dem Ergebnis, dass wir Geschlechtsumwandlungen genau an den Leuten vornehmen, die am wenigsten damit klarkommen.«
    »Aber denken Sie nur an Melanie. Sie kommt allerbesten damit klar.«
    »Sie haben recht, ich habe wohl übertrieben. Es gibt Menschen, bei denen ist es offensichtlich, dass wir einen Fehler der Natur korrigieren. Aber bei anderen … Nur, welche Möglichkeit bleibt uns, wenn wir ihrem Wunsch nicht nachkommen. Die Selbstmordrate ist einfach schockierend.«
    »Sie klingen niedergeschlagen«, sagte ich. »Warum strecken Sie sich nicht einfach auf der Couch aus und erzählen mir alles?«
    »Das wär’s noch!« lachte Jenny. »Die Therapie ist definitiv abgeschlossen, obwohl Sie mir tatsächlich noch einen kleinen Ratschlag geben könnten.«
    »Ja…?«
    »Wo lassen Sie Ihr Haar machen?«
    12. September
    Heute Morgen kam ein Brief von Antonio. Er ist wieder in Barcelona, wo sein letztes Studienjahr begonnen hat. Er sagt, er

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