Girl
habe es gerade erst geschafft, das alles ganz hinten in meinem Gedächtnis zu verstauen. Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch einmal alles von vorn durchstehen kann.«
»Das wird Ihnen nicht erspart bleiben. Genauer gesagt, das wird
uns
nicht erspart bleiben, vor Gericht. Und ich möchte nur, dass Sie die Wahrheit wissen, bevor die Anwälte anfangen, alles zu verdrehen und auseinanderzupflücken, bis keiner von uns mehr Wahrheit und Lüge auseinanderhalten kann.«
Der Kellner trat an den Tisch und warf einen Blick auf meinen halb verzehrten Senfkohl-Salat. »Alles nach Ihren Wünschen, Madame?«
»Wie? O ja, ausgezeichnet. Aber räumen Sie ruhig schon ab. Ich habe im Augenblick wenig Appetit.« Während der Teller abgeräumt wurde, bat ich den Kellner, mir ein großes Glas Weißwein zu bringen. »Eigentlich trinke ich tagsüber nicht mehr. Aber heute, denke ich, werde ich eine Ausnahme von der Regel machen.«
»Ich glaube, ich warte, bis Sie einen Schluck getrunken haben. Das ist gut für die Nerven, löst die Anspannung. Der Ratschlag eines Arztes.«
Ich gab mir Mühe, höflich zu lächeln. Der Drink ließ eine Ewigkeit auf sich warten, während wir einander gegenübersaßen und ein wenig Smalltalk zu machen versuchten, dabei aber kläglich scheiterten. Endlich stand ein gekühltes Glas Chablis auf dem Tisch, und ich nahm zwei tiefe Schlucke. »Also denn«, sagte ich, während der Wein die Spitze meiner Anspannung nahm, »erzählen Sie.«
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Und James begann mit seiner Geschichte.
»Es gab damals schon eine ganze Woche Probleme, wegen des Arbeitskampfs. Operationen mussten abgesagt werden, es bildete sich eine riesige Warteliste – das reinste Chaos, um ehrlich zu sein. Ich wollte unbedingt alles hinter mich bringen, weil ich sonst mit meinem Zeitplan völlig in Verzug geraten wäre und Patienten, die dringender Hilfe bedurften, hätte abweisen müssen.
Eine von ihnen war eine junge Frau, etwa in Ihrem Alter. Sie war durch einen Autounfall fürchterlich verbrannt und vernarbt, und wir wollten mit ersten Hauttransplantationen für ihr Gesicht beginnen. Der einzig freie Termin im OP war spät in der Nacht zum neunten, und die Operation dauerte – ich glaube, es muss bis ungefähr fünf Uhr früh gewesen sein.
Um Acht hatte ich dann einen kleinen bosnischen Jungen. Der arme Kerl war mit schlimmsten Entstellungen im Gesicht zur Welt gekommen. Im Ernst, es gab da nur ein gähnendes Loch, wo seine Nase hätte sein sollen. Rückblickend glaube ich, ich hätte die Operation verschieben sollen. Aber wenn es um Kinder geht…«
Er nippte kurz an seinem Mineralwasser. »Die Operation war durch Spenden finanziert. Monatelang hatten sie Geld gesammelt, um den Jungen von Bosnien herüberzubringen. Ich hatte es nicht über mich gebracht, vor sie zu treten und ihnen zu sagen, dass ich zu müde zum Operieren sei. Als ich also am Nachmittag zu Ihnen kam, war ich völlig erschöpft. Die einzige Möglichkeit, es noch hinzukriegen, war auf Autopilot umzuschalten. Meine Gedanken kreisten ausschließlich um die technischen Dinge. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass … dass ich da den falschen Patienten vor mir haben könnte.«
»Aber ich habe doch ganz bestimmt nicht nach einem Patienten für eine Geschlechtsumwandlung ausgesehen? Mit der obligatorischen zweijährigen Hormonbehandlung, hätte ich da keine Brüste gehabt? Und rasiert war ich auch nicht – das muss doch offensichtlich gewesen sein?«
James lachte bitter. »So, wie es im letzten Jahr im Krankenhaus zuging, war alles möglich. Was die Hormone betrifft, so wird die Behandlung bei allen Kandidaten sechs Wochen vor der Operation abgesetzt. Es ist normal, dass sämtliche Brustentwicklung in dieser Zeit verschwindet. Die Ironie daran ist, dass die Leute nach ihrer Geschlechtsumwandlung männlicher aussehen als in den Jahren zuvor.«
Ich schwieg eine Weile vor mich hin. James wurde leicht nervös. »Tut mir leid. Ich weiß, Sie haben etwas anderes erwartet. Ich wollte nicht nach einer Entschuldigung für das Geschehene suchen. O Mist, ich hätte den Mund halten sollen.«
»O nein, das ist es nicht. Ich war nur vorübergehend ganz weit weg. In der Erinnerung daran, wie mein Leben vor der Operation ausgesehen hat. Es ist alles so merkwürdig. Es ist gerade mal ein Jahr her, weniger noch. Und trotzdem kommt es mir so entfernt vor, als gäbe es keine Verbindung mit meinem heutigen Leben.«
Ich suchte angestrengt nach den
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