Giselles Geheimnis
zurückzuholen. Denn ja, sie hatte sich wirklich und wahrhaftig in ihn verliebt.
Ein Schauer jagte durch sie hindurch. Wie leicht sie doch der Versuchung erlegen war und all ihre selbst auferlegten Regeln gebrochen hatte. Doch noch war nicht alles verloren. Stefano liebte sie nicht. Sie würden sich trennen. Das hieß, sie konnte das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, noch immer halten.
Stefano konnte sich nicht auf die Zahlen konzentrieren, die vor ihm auf dem Computerbildschirm standen. Überhaupt konnte er sich auf nichts mehr konzentrieren außer auf Giselle, wie er sich grimmig eingestand. Und was bedeutete das nun? Es hieß nichts anderes, als dass er sie in seinem Leben und in seinem Bett wollte. Vorerst. So lange, bis sie beide zu der Auffassung gekommen waren, dass das Feuer zwischen ihnen ausgebrannt war und sie beide wieder frei waren, um eigener Wege zu gehen.
Er versuchte, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit zu richten, doch das heiße Sehnen in ihm ließ sich nicht ignorieren. Er wollte bei Giselle sein. Er wusste, heute Morgen besichtigte sie die Altstadt, er wollte mit ihr zusammen sein. Nicht nur im Bett, sondern wirklich mit ihr zusammen sein. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn sie seine Heimatstadt erkundete, wollte die Stadt mit ihren Augen sehen. Er wollte …
Er fluchte unter angehaltenem Atem, schaltete seinen Laptop aus und stand auf. So schwer konnte es nicht sein, Giselle zu finden. Die Stadt war schließlich nicht groß, und zudem kannte er jedes noch so enge Gässchen.
Stefano verließ den Palast und holte mit energischen Schritten aus, beschleunigte sein Tempo noch, als das Drängen in ihm immer heftiger wurde.
Endlich erblickte er sie. Giselle schlenderte ein gutes Stück vor ihm die Gasse entlang, doch jetzt war sie bei einer der größeren Straßen angelangt, die auf den Marktplatz zuliefen, und blieb stehen, ihr Blick scheinbar konzentriert auf die andere Straßenseite gerichtet. Zuerst dachte Stefano, sie schaue sich um, um die Straße zu überqueren, doch dann wurde ihm klar, dass sie die junge Mutter taxierte, die versuchte, mit einem Baby im Buggy und einem trotzigen Kleinkind, das sich weigerte, die Hand der Mutter zu nehmen, fertigzuwerden und die Straße zu überqueren.
Stefano ging weiter auf Giselle zu.
Giselle hatte die junge Mutter mit den beiden Kindern erblickt, als sie selbst an die überraschend geschäftige Straße gekommen war, auf der der rege Verkehr zügig auf den großen Marktplatz zuströmte.
Der kleine Junge hatte den Griff des Buggys gefasst und wollte den Wagen schieben, während seine gestresste Mutter mit ihm schimpfte und ihn anwies, ihre Hand zu halten. Giselle wusste genau, welche Worte die junge Frau jetzt sagte, auch wenn sie sie nicht verstehen konnte. Es waren die Worte, die sich auf ewig in ihr Herz gebrannt hatten.
„Halte den Kinderwagen fest, nimm meine Hand. Nicht loslassen. Zieh nicht so. Pass auf …“
Der Junge wollte sich von der Hand der Mutter losreißen. Die Mutter drehte sich vom Kinderwagen weg, um ihn zurechtzuweisen, und dann …
Giselle rannte los, ohne auf die eigene Sicherheit zu achten. Das Hupen und die Flüche der Autofahrer hörte sie nicht, war sie doch nur von einem Gedanken beherrscht. Die Zeit hatte sich zurückgedreht und die Tür zur eigenen Vergangenheit aufgestoßen.
Sie musste sie retten. Sie musste alle retten, nicht nur sich selbst.
Was, zum Teufel, tat Giselle da? So einfach blindlings auf die Straße zu rennen? Sie würde unter die Räder kommen!
Stefano reagierte automatisch, getrieben von der größten Angst, die ein Mensch haben konnte – dass er verlor, was er am meisten liebte.
Ihm war kaum bewusst, dass er hinter ihr herstürzte und den Abstand zu ihr mit übermenschlichem Tempo verringerte. Hätte er sie nicht im letzten Moment zurückgerissen, wäre sie von einem herankommenden Wagen angefahren worden.
„Was soll das?! Willst du dich umbringen?“
Giselle konnte das wilde Hämmern seines Herzens an ihrer Brust fühlen, sie hörte das erschreckte Raunen, das durch die umstehenden Passanten ging. Man war herbeigeeilt und erkundigte sich besorgt, ob alles in Ordnung sei … Doch Giselle nahm dies alles nur vage wahr, beherrschte sie doch nur ein einziger Gedanke.
„Der Kinderwagen … das Baby … ist ihm nichts passiert?“, brachte sie hervor.
„Allen dreien geht es gut“, versicherte Stefano ihr.
Allen dreien. Diesen dreien, aber nicht den dreien aus ihrer
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