Giselles Geheimnis
Familie. Sich selbst hatte sie gerettet, aber ihre Mutter und ihren kleinen Bruder hatte sie sterben lassen …
Ein gequältes Schluchzen stieg aus Giselles Kehle auf. „Ich habe sie getötet. Es war meine Schuld. Ich hätte den Kinderwangen nicht loslassen dürfen. Ich hätte sie retten müssen oder mit ihnen sterben sollen.“
Stefanos Herz zog sich zusammen. Giselle sah mit leerem Blick an ihm vorbei, nahm ihn gar nicht wahr. „Giselle?“
Ihr Blick kehrte in die Gegenwart zurück. „Entschuldige bitte“, sagte sie so höflich, als wäre er ein Fremder.
Er wollte, dass sie ihn ansah, ihn … Sie sollte erkennen, dass … Ja, was? Das, was er erkannt hatte, als die Angst, sie zu verlieren, jäh in ihm aufgeschossen war? Die Worte lagen ihm auf der Zunge, ihr zu sagen, dass sie sein Leben war, dass er sie nie wieder gehen lassen würde.
War das etwa Liebe? Dieses Gefühl, dass ein Teil seines Selbst bloß und blutend dalag und diese Wunde nur durch die komplette Verschmelzung mit der anderen, der einen speziellen Person heilen konnte? Wenn das wirklich Liebe sein sollte, so war es kein Wunder, dass er immer Angst davor gehabt hatte. Es war so riesig, so überwältigend, so allumfassend, dass jeder Mensch vor dieser Macht erzittern musste. Er wollte Giselle sagen, was er so klar erkannt hatte, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, nicht, wenn sie offensichtlich unter Schock stand.
„Ich bringe dich zurück zum Palast“, sagte er, „und rufe den Arzt.“
„Nein“, wollte sie ihn aufhalten. „Ich brauche keinen Arzt. Mir geht es gut.“
Das stimmte natürlich nicht, und an Stefanos grimmiger Miene konnte sie ablesen, dass er ihr nicht glaubte.
Stefano betrachtete Giselle, die angezogen auf dem Bett lag und schlief. Sie hatte wie Espenlaub am ganzen Körper gebebt, als er sie in seine Suite brachte, und sie hatte sich weder gesträubt, den Cognac zu trinken, den er ihr aufdrängte, noch hatte sie protestiert, als er sie anwies, sich hinzulegen und auszuruhen.
Das Erlebnis und der Beinahe-Unfall hatten sie zutiefst erschüttert. Verwunderlich war es nicht, ihn hatte es ja auch mitgenommen. Noch immer hörte er die quietschenden Bremsen des Wagens, der ihr glücklicherweise hatte ausweichen können.
Auf dem Bett stöhnte Giselle im Schlaf. „Nein!“ Sie begann sich zu wälzen, schrie laut auf: „Nein, Mummy, nein!“
Ihr gequälter Schrei stach Stefano ins Herz, ließ ihn vom Sessel aufspringen und zum Bett eilen.
Giselle schlug die Augen auf und setzte sich abrupt auf. Der Albtraum … er war zurückgekehrt, zum ersten Mal nach vielen Jahren. Doch dieses Mal waren die Bilder erschreckend klar und deutlich gewesen. Sie hatte sogar den Regen riechen können, vermischt mit dem Duft ihrer Mutter. Und dann den Geruch von Blut … Blut, überall … auf ihrer Kleidung, an ihren Händen … das Schuldgefühl, das sich wie Säure in ihr Herz fraß …
„Giselle?“ Stefano schlang die Arme um sie. „Rede mit mir“, verlangte er leise. „Sag mir, was los ist.“
Giselle hob den Blick zu ihm auf. Sie war es leid, ständig darum zu kämpfen, ihre Schuld geheim zu halten. Sie würde Stefano so oder so verlieren, was machte es da noch, wenn sie den Abscheu in seinen Augen sah?
Schwer atmete sie aus und gab sich geschlagen. „Es war die Mutter mit dem Buggy und dem kleinen Jungen. Sie haben mich wieder erinnert … ich dachte …“
Sie sprach so leise, dass Stefano sich anstrengen musste, um sie zu verstehen.
„Ich hätte sie aufhalten müssen. Ich hätte die Hand meiner Mutter und den Kinderwagen nicht loslassen dürfen. Wenn ich nicht …“
Sie redete über ihre Kindheit, wurde Stefano klar. Die Mutter heute mit dem Kleinkind und dem Buggy musste Giselle an den schrecklichen Unfall erinnert haben, der ihr Mutter und Bruder geraubt hatte.
„Ich hätte mit ihnen sterben sollen. Das war es, was mein Vater dachte. Deshalb hat er mich weggeschickt. Ich durfte nicht bei ihm bleiben, weil er meinen Anblick nicht ertragen konnte. Weil ich sie nicht gerettet habe. Er wusste, dass ich mit ihnen hätte sterben sollen.“
Stefano war entsetzt. „Nein, Giselle“, meinte er belegt und zog sie fester an sich. „Nein, das ist nicht wahr.“
„Doch, ist es. Es war meine Schuld. Hätte ich festgehalten … Aber das habe ich nicht. Ich habe losgelassen, und sie sind gestorben. Mummy war böse auf mich, weil ich nicht rausgehen wollte. Es war dunkel, und es regnete. Aber Mummy sagte, wir
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