Giselles Geheimnis
Kinder stellen, vor allem an einen Sohn. Sie selbst ist so ehrgeizig, dass ein sensibleres Kind Schwierigkeiten mit ihren Ansprüchen haben wird.“ Er hielt inne und überlegte. „Wenn du mich fragst, da gibt es Anzeichen einer gewissen Labilität bei ihr. Bis jetzt war es mir nicht aufgefallen, aber dieses Schauspiel heute …“
Giselles Mund wurde trocken, ihr Herz begann zu pochen. „Ich glaube, sie hatte einfach nur zu viel getrunken, deshalb war sie so aufgebracht.“
„Du nimmst sie auch noch in Schutz?“ Stefano zog die Augenbrauen in die Höhe. „Das ist sehr verständnisvoll von dir, aber ich glaube wirklich, ihr Verhalten deutet auf eine emotionale oder sogar mentale Instabilität hin. So etwas wird allen in ihrem Umfeld nur Unglück bringen.“
Giselle erschauerte unwillkürlich, und Stefano erriet sofort den Grund dafür.
„Du denkst an deine eigene Kindheit?“
„Ja“, gestand sie gezwungenermaßen. „Und ich muss daran denken, wie schwer es ihre Kinder haben werden.“
„Weil Natasha sie emotional vernachlässigen wird?“
„Ja. Und …“ Sie sprach nicht weiter, doch Stefano hakte nach.
„Und?“
Mit trauriger Stimme sagte sie leise: „Und weil ihnen automatisch der Makel einer labilen Mutter anhaften wird – die Angst, dass es sich bei ihnen weitervererbt haben könnte.“
„Du redest, als hättest du eigene Erfahrungen damit gemacht.“
Zu spät erkannte sie, wie nahe sie dem gefährlichen Thema gekommen war. Sie wünschte, sie hätte nichts gesagt. „Man hat mir mehr oder weniger Schuld an dem Unfall gegeben – weil ich überlebt hatte und sie nicht.“ Sie zwang sich, es auszusprechen. „Mein Vater … und andere auch.“
„Dein Vater hat dir den Unfall angelastet?“ Stefano griff nach Giselles Hand und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. „Warum sollte irgendjemand so etwas tun? Du warst doch noch ein Kind!“
Zu spät, um die heranrollende Flut von Schmerz und Qual noch aufzuhalten. Die Welle riss Giselle mit, zog sie in die Dunkelheit hinab. Sie war wieder das Kind – allein und verlassen, unerwünscht und schuldig …
Es überraschte Stefano, wie stark das Bedürfnis war, sie zu trösten. Er nahm Giselle in den Arm. „Es war nicht deine Schuld, du konntest doch nichts dafür.“
Es war nicht deine Schuld . Wie sehr hatte Giselle sich all die Jahre danach gesehnt, diese Worte zu hören, endlich das Gefühl zu haben, dass jemand ihren Schmerz erkannte und ihr helfen wollte. Dass man ihr nicht die Schuld gab, dass man sie nicht wegschickte. Oder den Tod wählte, anstatt mit ihr zu leben, so wie ihr Vater es getan hatte.
Sie hatte doch das Gerede nach seinem Tod gehört, das Geraune hinter vorgehaltener Hand. Von den wohlmeinenden Erwachsenen, die im Sog des eigenen Entsetzens und der eigenen Neugier nicht merkten, dass ein siebenjähriges Mädchen durchaus verstehen konnte, was sie sagten – dass nämlich der Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte, weil er nach dem Tode seiner Frau und seines Sohnes nicht mehr hatte weiterleben wollen.
Sie hatte schon damals verstanden, was sie alle gesagt hatten. Und sie hatte verstanden, warum ihr Vater sie wegschickte, um bei der Großtante zu leben. Weil er ihr die Schuld gegeben hatte. Er hatte ihre Schuld erkannt und sie mit ihrer Schuld und ihren Ängsten allein gelassen. Sie war eine Belastung für ihren Vater gewesen, eine Belastung, die er nie gewollt hatte und der er nur durch den Tod hatte entkommen können. Und da hatte sie gewusst, dass sie nie wieder jemanden mit ihrer Liebe belasten durfte, so wie sie auch niemals …
Giselle erbebte, doch dieses Mal hielten Stefanos Arme sie fest. Sie wollte nicht an die Vergangenheit denken, wollte nicht darüber reden. Sie wollte nur diesen Moment erfahren, in Stefanos Armen. Sie bot ihm ihr Gesicht zum Kuss.
Stefano küsste sie, und während er sie küsste, zog er sie behutsam und zärtlich aus. Und mit jeder Lage Stoff, die an ihr herabglitt, fielen auch Scheu und Mutlosigkeit von ihr ab und legten die sinnliche Seite ihres Wesens frei, die so lange unterdrückt worden war.
Nur in Stefanos Armen, nur in seinem Bett fühlte sie sich wirklich lebendig, so als könne sie nur dort ganz sie selbst sein. Sie wusste aber auch, wie kurz ihr dies vergönnt sein würde, und daher galt es, keine Sekunde zu vergeuden.
Fieberhaft begann sie, ihn auszuziehen, so wie er sie ausgezogen hatte, die Reise zum Ziel von nackter Haut auf nackter Haut nur unterbrochen von Küssen und
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