Giselles Geheimnis
müssen spazieren gehen, damit Thomas mit dem Weinen aufhört. Sie sagte, wir würden in den Park gehen, zu den Schaukeln, aber dann hat sie es sich anders überlegt und meinte, dass wir die Straße überqueren sollen. Sie sagte, ich solle ihre Hand halten, doch ich wollte nicht. Ich wollte in den Park gehen, so wie sie es versprochen hatte. Sie fasste meinen Arm, doch ich riss mich los, und dann … dann kam der Lastwagen … und es war zu spät. Es war meine Schuld, dass sie verunglückt sind.“
„Nein, auf keinen Fall“, bestritt Stefano vehement. Es entsetzte ihn, wenn er sich vorstellte, welche Qualen und welchen Kummer Giselle all die Jahre über gelitten hatte. „Es war nicht deine Schuld. Es war ein schrecklicher Unfall. Dich trifft keine Schuld.“ Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Sieh mich an, Giselle“, verlangte er, und sie gehorchte. „Glaubst du wirklich, das Schicksal hätte zugelassen, dass du ums Leben kommst, wenn es dich doch schon für mich vorgesehen hatte?“
Bei seinen Worten schaute Giselle ihn ungläubig an. „Was … was meinst du damit?“
„Als ich dich da auf die Straße vor all die Autos rennen sah und dachte, dass ich dich verlieren würde, wurde mir die Wahrheit bewusst. Ich liebe dich, Giselle. Ich glaube, ich habe mich gleich dort unten in der Tiefgarage in dich verliebt, als du mir erst den Parkplatz weggenommen und dann auch noch keinen Millimeter nachgegeben hast. Das Schicksal hat uns an jenem Tag zusammengeführt, weil es uns von vornherein füreinander bestimmt hat.“
„Nein“, stritt Giselle in Panik ab. „Du kannst mich nicht lieben. Das darfst du nicht. Wir dürfen uns nicht lieben.“
„Weil wir verletzt werden könnten?“ Stefano lehnte seine Stirn an ihre. „Du glaubst, du darfst niemanden lieben und niemand darf dich lieben wegen des Unglücks, das deiner Mutter und deinem Bruder zugestoßen ist, nicht wahr?“
Giselle zögerte. Der Zeitpunkt war gekommen, ihm alles zu sagen. Sie wollte es, wollte es wirklich. Aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie hatte zu große Angst davor, sie auszusprechen, und so nickte sie nur stumm.
Es war schließlich die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Sicher durfte sie doch noch ein wenig mehr Zeit mit ihm haben? Sicher waren ihr noch ein paar süße Momente mehr vergönnt, bevor sie ihn einer anderen Frau überlassen musste?
„Du solltest es nicht erfahren. Weil ich nicht wollte, dass du mich verurteilst und mich mit dem gleichen Blick ansiehst wie mein Vater. Ich hätte sie retten müssen, aber ich tat es nicht“, brachte sie gequält hervor.
„Du warst noch ein Kind. Was hättest du denn überhaupt tun können?“ Er konnte sich die Szene so gut vorstellen. Eine nasse Straße in der Dunkelheit, eine gereizte Mutter mit zwei kleinen Kindern, ungeduldig, wieder zurück nach Hause zu kommen … Bei dem Gedanken, welche Last Giselle all die Jahre mit sich herumgetragen hatte, saß ihm ein Kloß in der Kehle. Still schwor er sich, dass sie nie wieder so leiden sollte.
„Ich liebe dich, Giselle.“ Und während er die Worte aussprach, wurde ihm klar, wie ernst er es meinte. Es überraschte ihn nur, wie dumm er gewesen war und wie lange er gegen die Wahrheit angekämpft hatte, wenn sein Körper und Herz es doch längst erkannt hatten. „Nichts, was du sagst oder tust, könnte mich je davon abhalten, dich zu lieben. Nichts“, bekräftigte er. Und dann setzte er leise hinzu: „Ich möchte dich heiraten, Giselle.“
„Nein, unmöglich. Du kannst mich nicht heiraten.“
Stefano lächelte. „Ich verstehe. Du hast bereits einen anderen Mann, oder?“, neckte er sie. „Nun, in diesem Falle kann die Heirat problemlos annulliert werden, schließlich wurde die Ehe nie vollzogen. Du warst niemals wirklich seine Frau, so wie du meine Frau geworden bist – wie du meine Liebe, mein Leben geworden bist.“ Er beugte den Kopf und küsste sie, und sie konnte ihm ebenso wenig widerstehen wie dem eigenen Verlangen.
„Das Schicksal hat uns füreinander bestimmt. Ich bin mir dessen absolut sicher, so sicher wie noch nie in meinem Leben. Uns zu begegnen, zu lieben und zusammen zu sein, das ist unser gemeinsames Schicksal.“ Mit jeder einzelnen Zelle spürte er es. „Das Schicksal hat uns beide sogar eine tragische Kindheit durchleben lassen, damit wir verstehen können, was der andere fühlt. Die Erfahrung des Verlusts hat ein Band zwischen uns geschaffen und eine Brücke für uns gebaut,
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