Giselles Geheimnis
weniger Anspruchsvollem betraut haben.“
Mit jedem lobenden Wort über Giselle war Stefanos Miene grimmiger geworden. Lob für sie war das Letzte, was er hatte hören wollen. Doch jetzt, da er ihre Qualitäten kannte, wäre es sehr unprofessionell gewesen, wenn er die Zusammenarbeit mit ihr abgelehnt hätte. Sie mochte nicht sein Typ sein, aber sie war anscheinend die Beste hier in der Firma. Und er hatte nun mal nicht die Zeit, sich durch andere potenzielle Kandidaten zu arbeiten, die sich dann eventuell als unqualifiziert erweisen würden. Das Inselprojekt musste so bald wie möglich in Angriff genommen werden, wollte er den kalkulierten Profit erzielen.
„Nun gut“, sagte er also und fügte gleich seine Warnung an: „Sollte sich herausstellen, dass sie den Job nicht erledigen kann, erwarte ich von Ihnen, dass Sie mir einen anderen Ihrer Mitarbeiter überlassen.“ Wenn er also mit Giselle Freeman arbeiten musste, dann würde sie eines auf jeden Fall sehr schnell lernen müssen – er machte die Regeln, und sie hatte sie zu befolgen.
„Ich nehme an, Sie wünschen die Zusammenarbeit baldmöglichst aufzunehmen?“, fragte der Seniorpartner.
„Richtig.“ Stefano vermutete, dass Giselle ebenso wenig mit ihm arbeiten wollte wie er mit ihr. Es würde ihm immerhin eine gewisse zynische Befriedigung verschaffen. Und er würde sicherstellen, dass ihr ständig vor Augen stand, wie sehr sie sich mit dem Parkplatzraub ins eigene Fleisch geschnitten hatte. Den ersten Schritt dazu hatte er bereits unternommen: Bei der Personalverwaltung hatte er sich den Zweitschlüssel für ihren Firmenwagen abgeholt. Der steckte jetzt sicher in seiner Tasche.
Nicht dass er seine wertvolle Zeit mit Gedanken an Giselle Freeman verschwenden würde, das nicht. Er hatte wesentlich Wichtigeres zu erledigen. Der erste Punkt auf seiner Liste waren die finanziellen Probleme, denen sein Cousin sich im Moment gegenübersah.
Normalerweise machte es Stefano Spaß, Probleme zu lösen. Er lief dann zu seiner Höchstform auf. Das hatte er auch damals getan, um über die langen leeren Monate nach dem Tode seiner Eltern hinwegzukommen und den Verlust zu verarbeiten.
Sie waren ums Leben gekommen, als sie Erdbebenopfern in Südamerika helfen wollten. Unter einem zusammenstürzenden Haus begraben. Der Schmerz über den Verlust hatte ihn schockiert. Weder auf diesen Schmerz noch auf den Tod der Eltern war er vorbereitet gewesen. Seine erste Reaktion war Wut gewesen – Wut, weil sie ihr Leben riskiert und verloren hatten, Wut, weil sie nie darüber nachgedacht hatten, was ihr Tod ihm antun würde, Wut, weil sie ihn nicht genug liebten, um zu garantieren, dass sie immer für ihr Kind da sein würden – selbst wenn er zu dem Zeitpunkt achtzehn gewesen war und somit offiziell erwachsen.
Damals hatte er sich geschworen, nie Kinder zu haben, nur damit er ihnen nicht irgendwann denselben Schmerz zufügen würde, den er empfand. Ihm war auch klar geworden, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass er einen jüngeren Cousin hatte, der den Familientitel erben und somit das Wohl des kleinen Landes immer vor die eigenen Bedürfnisse würde stellen müssen.
Aldo war nicht wie er. Ein stiller, sanfter Gelehrter, der der raffinierten Tochter eines russischen Tycoons nichts entgegenzusetzen hatte. Aber der arme Narr war ja bis über beide Ohren verliebt und völlig vernarrt in seine Frau.
Stefano glaubte nicht an Liebe. Verlangen, Lust, Leidenschaft – ja. Aber diese Empfindungen an Gefühle zu koppeln und es dann Liebe zu nennen – niemals. Das war nichts für ihn. Er legte Wert auf ungebundene Gefühle und Freiheit. Das garantierte nämlich, dass er nie wieder den Schmerz empfinden musste, wie er ihn beim Tode der Eltern gefühlt hatte.
Während Aldo auf Tradition und Dauerhaftigkeit setzte, brauchte Stefano die Herausforderung. Und das Vorhaben für die Insel Kovoca stellte schon jetzt eine Herausforderung dar. Der Vorbesitzer schien vorgehabt zu haben, selbst Dubai auszustechen.
Bei dem Unterwasserhotel inklusive Röhrenstraßen hatte Stefano bereits den Rotstift angesetzt. Auch bei der befahrbaren Brücke, die die Insel mit dem Festland verbinden sollte. Und der Plan, den einzigen Berg auf der Insel mit künstlichem Schnee zu einem Skiresort zu machen, war ebenfalls seinem Rotstift zum Opfer gefallen.
Er wünschte nur, er könnte auch einen roten Strich durch die Zusammenarbeit mit Giselle Freeman machen.
Die anderen mochten vielleicht die
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