Giselles Geheimnis
Nachricht feiern, dass das Kovaca-Inselprojekt weiterging und sie ihre Jobs als Architekten behielten, doch Giselle hatte noch einen anderen Kunden zu betreuen. Deshalb war sie jetzt auch auf dem Weg in die Tiefgarage zu ihrem Wagen, um zu dem kleinen Büro der Wohltätigkeitsorganisation zu fahren.
Der Organisation war ein Grundstück vermacht worden, auf dem sie jetzt ein Gemeindezentrum und Unterkünfte für Obdachlose bauten. Die Leiter hatten um die Hilfe eines Architekten ersucht, und Giselle hatte sich bereit erklärt, die Arbeit ehrenamtlich in ihrer Freizeit zu übernehmen. Ihre Chefs hatten zugebilligt, dass sie Geräte und Inventar der Firma für dieses Projekt nutzen konnte. Wichtig war nicht nur, dass das Gebäude sich in die Umgebung einfügte und die gewünschten Einrichtungen bot, sondern es ging auch um kostengünstiges Bauen und später dann um das Unterhalten des Gebäudes. Giselle hatte sich schon mehrere Möglichkeiten angesehen, wie diese Ziele zu erreichen waren.
Wenn sie dann heute Abend nach Hause kam, würde sie sich mit der Leiterin des Seniorenheims in Verbindung setzen, in dem ihre Großtante lebte, und sich erkundigen, ob ihre Tante sich hoffentlich schon ein wenig von der Grippe erholt hatte.
Meadowside war eine sehr gepflegte Einrichtung, die Bewohner wurden bestens versorgt, aber ein Platz in dem Haus war auch extrem kostspielig. Großtante Maudes angelegtes Geld vom Verkauf ihres Hauses sorgte für die Hälfte der monatlichen Kosten, Giselle brachte die andere Hälfte auf. Das war das Mindeste, was sie für ihre Großtante tun konnte, nach allem, was die Tante für sie getan hatte. Sie hatte sie aufgenommen, sich um sie gekümmert und sie geliebt, trotz allem, was passiert war.
Giselles Magen zog sich zusammen, wie immer, wenn sie an die Vergangenheit dachte. Sie würde es niemals vergessen können. Selbst heute noch rief das Geräusch von quietschenden Bremsen Panik in ihr hervor. Die Bilder waren immer präsent – die nasse Straße, die Dunkelheit, ihre Mutter, die sie anwies, den Kinderwagen festzuhalten, wenn sie die Straße überquerten. Aber sie hatte den Wagen nicht festgehalten. Sie hatte losgelassen … Und dann kamen die lauten Geräusche – quietschende Reifen, berstendes Glas, das Schlittern des umgefallenen Kinderwagens … der Geruch von Benzin, Regen, Blut …
Nein!
Es war ein stummer Schrei, der durch ihren Kopf hallte. Giselle grub die Nägel in ihre Hand. In die Hand, die den Kinderwagen hätte festhalten sollen. Die Hand, die sie weggezogen hatte. Noch immer konnte sie die Anweisung der Mutter hören, zu bleiben, wo sie war, und den Kinderwagen festzuhalten. Noch immer sah sie die Angst im Gesicht der Mutter, noch immer das Gesichtchen ihres friedlich schlafenden kleinen Bruders vor sich, bevor der Wagen auf die Straße gerollt war. Und sie sah den Lastwagen herankommen …
Es war längst geschehen und vergangen. Die Toten kehrten nicht zurück. Aber vorbei würde es niemals sein, nicht für sie. Außer ihrer Großtante wusste niemand, was sie wusste.
Nach dem Tod von Mutter und Bruder hatte Giselle allein mit ihrem Vater gelebt, einem überarbeiteten Arzt für Allgemeinmedizin. Es war die düsterste Zeit ihres Lebens gewesen. In seiner Trauer hatte der Vater sich völlig abgeschottet und seine Tochter ignoriert, erinnerte sie ihn doch nur an all das, was er verloren hatte. Seine emotionale Distanz hatte Schuldgefühl und Elend in ihr nur noch wachsen lassen.
Dann war Großtante Maude zu Besuch gekommen, und als sie wieder abfuhr, nahm sie Giselle mit sich. Giselle hatte sich verzweifelt gewünscht, ihr Vater würde sie nicht gehen lassen, würde sie festhalten und ihr sagen, dass er sie liebte, dass er ihr keine Vorwürfe machte. Aber das hatte er nicht getan. Auch heute noch stand ihr sein Gesicht vor Augen, hager und verhärmt, während er auf die Vorschläge der Tante stumm nickte und Giselle dabei nicht anblickte. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass sie ihn sah. Keine sechs Monate später starb er an einem Herzinfarkt.
Als Kind hatte Giselle immer geglaubt, er hätte den Tod vorgezogen, um mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder zusammen zu sein, anstatt mit ihr zu leben. Selbst heute noch schoss ihr manchmal der Gedanke in den Kopf, dass er sie nicht hätte gehen lassen, wenn er sie geliebt hätte …
Nicht dass sie bei ihrer Tante unglücklich gewesen wäre, das nicht. Die Tante hatte sie geliebt und sich rührend um sie gekümmert.
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