GK0141 - Irrfahrt ins Jenseits
Die Augenhöhlen waren tiefe Schächte, in denen es gelblich leuchtete, der Mund eine klaffende Höhle und die Zahnreihen lückenhaft.
Wie eine Marionette bewegte sich das Skelett. Die Augen fixierten den schreckensstarren Mike O’Shea. Ein Blick wie ein Bannstrahl traf den Iren, der zitternd einige Schritte zurückwich, bis er mit dem Rücken gegen die kalte Mauer stieß.
Das Skelett begann zu lachen. »Du entkommst mir nicht, du Elender. Lange genug habe ich auf meine Stunde gewartet. Längst haben die Menschen den Namen Kelem vergessen, doch ich werde sie wieder daran erinnern. Sieben Opfer müssen es sein. Fünf habe ich schon bekommen, und du wirst das sechste sein.«
Das Skelett schwang das rechte knochige Bein über den Rand des Sarkophages, umrundete die steinerne Totenkiste und kam mit ausgestreckten Armen auf Mike O’Shea zu.
»Bleib stehen!« keuchte der Ire. »Bei allen Heiligen, bleib stehen!«
Das Skelett zuckte zusammen, als Mike das Wort Heiligen erwähnte, doch der Ire achtete nicht auf diese Reaktion. Statt dessen hob er die Schrotflinte. Er wollte es doch noch einmal versuchen. Kampflos würde er sich nicht ergeben.
Das Skelett begann zu lachen. Gellend und teuflisch drang das Gelächter aus seinem Mund.
»Du willst es wirklich versuchen? Du willst…?«
Mike O’Shea schoß.
Donnernd entlud sich der rechte Lauf der Schrotflinte. Die Rehpostenladung fauchte aus der Mündung und prasselte gegen die Knochen des Skeletts.
Wie von einer Riesenfaust wurde das unheimliche Wesen herumgestoßen, ein paar Meter weitergeschleudert und krachend gegen eine Wand gefegt.
Mike O’Shea brüllte auf. »Dich habe ich, du… Ich…« Der Ire rannte vor, wollte mit seinem Gewehr die Knochen des Skeletts zerschmettern, doch im gleichen Augenblick erhob sich das Gerippe vom Boden.
Mit einem Schrei fuhr O’Shea zurück.
Die Rehpostenladung hatte dem Unheimlichen nicht geschadet. Im Gegenteil, sie hatte die Wut des Gerippes angestachelt.
Ein häßliches Fauchen drang aus dem Mund. Mike O’Shea dachte gar nicht daran, auch die zweite Ladung abzufeuern, die Angst war über ihn gekommen wie ein Unwetter.
Mike schrie auf, als er die stahlharten Klauen an seinem rechten Oberarm spürte. Wie eine Puppe wurde er herumgerissen. Er spürte die Kälte, die von dem Skelett ausging und wurde starr wie ein Eisblock.
Dann legten sich die Finger um seinen Hals…
***
Zwei Tage waren vergangen, und Mike O’Shea war nicht zurückgekehrt. Mary O’Shea hatte sich während dieser Zeit nicht aus dem Haus getraut. Sie lief nur mit verweinten Augen herum und wich den bohrenden Fragen ihrer beiden Kinder aus.
Mary wußte, daß ihr Mann nicht mehr am Leben war. Er hatte sich geopfert. Für sie, für ihre Kinder und für die anderen Menschen im Dorf. Manchmal war Mary versucht, hinauf zur Burg zu laufen, doch dann verwarf sie den Plan immer wieder. Wenn auch sie noch getötet werden würde, war niemand mehr da, der sich um die Kinder kümmern konnte.
Nein, sie mußte im Haus bleiben!
Am schlimmsten waren die beiden Nächte gewesen. Unendlich lang hatten sie sich hingezogen, und Mary O’Shea war von unheimlichen Alpträumen gegeißelt worden. Manchmal hatte sie auch geglaubt, jemand hätte an die Tür geklopft. Sie war dann immer aufgestanden und hatte nachgesehen, doch es war niemand da gewesen.
Selbstverständlich hatten die Nachbarn Mike O’Sheas Fehlen bemerkt. Schließlich arbeitete O’Shea in einer kleinen Kesselschmiede. Auf die Fragen des Besitzers hatte Mary erwidert, daß ihr Mann wegen einer Erbschaftsangelegenheit nach Glasgow gefahren sei und erst später wiederkäme.
Der dritte Vormittag nach dem Verschwinden ihres Mannes zog sich für Mary genau so lang hin wie die anderen. Die Kinder waren in der Schule und kamen erst am Mittag zurück.
Mary saß am Küchentisch, hatte den Kopf in beide Hände vergraben und weinte. Wieder dachte sie an ihren Mann, und plötzlich fielen ihr seine letzten Worte ein. Sie dachte an den Brief, den Mike geschrieben hatte und den sie nach seinem Verschwinden abschicken sollte.
Mein Gott, sie hatte das Schreiben völlig vergessen.
Mary sprang auf und lief in das kleine Schlafzimmer. Hastig schloß sie den Schrank auf, räumte ein paar Wäschestücke zur Seite und holte eine kleine Kassette hervor. Den passenden Schlüssel trug sie in der Schürzentasche.
Mary O’Shea schloß die Kassette auf und klappte den Deckel hoch.
Der Brief lag direkt obenauf. Auf einigen
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