GK0176 - Der Alptraum-Friedhof
sie sich wirklich getäuscht hatte.
Sie brauchte gar nicht weit zu gehen, denn der kleine Dorffriedhof grenzte mit seiner Mauer direkt an das Hotelgrundstück. Lisa drehte sich um und nahm das Kreuz von der Wand. Sie umklammerte das Holz mit beiden Händen, es war ihr einziger Schutz. Auf Zehenspitzen verließ Lisa das Zimmer. Jedes Knarren der Holzdielen hörte sich überlaut in der Stille an, doch ungesehen und ungehört erreichte Lisa die Rezeption des Hotels.
Die untere Etage lag in völliger Dunkelheit. Der Besitzer wohnte in einem kleinen Anbau, genau entgegengesetzt. Lisa schlich an der gläsernen Eingangstür vorbei, drückte sich durch einen schmalen Gang, durchquerte die Küchenräume und gelangte zur Hintertür, für die sie einen Schlüssel besaß.
Lisa schloß auf und schlüpfte hinaus in die klare, kühle Herbstnacht. Die letzten Septembertage hatten noch einmal Sonnenschein gebracht, aber nachts wurde es doch schon empfindlich kühl.
Lisa hob fröstelnd die Schultern, überquerte den kleinen Platz, auf dem die Lieferwagen hielten, die immer die Waren brachten, und tauchte ein in einen Wald- und Gebüschgürtel, der sich bis hinauf zu den Bergen zog und hinter dem Hotel seinen Anfang nahm. Ein schmaler Pfad führte nach rechts, dem kleinen Friedhof entgegen. Den Pfad kannten nur wenige. Er ringelte sich wie eine Schlange durch den Tannen- und Mischwald des Hochschwarzwaldes. Unter anderem berührte er auch den kleinen Dorffriedhof, und schon bald sah Lisa die Umrisse der brusthohen Steinmauer.
Sie mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinübersehen zu können.
Das Bild war gespenstisch.
Offen fiel das Mondlicht auf die gepflegten Grabreihen. Gestochen scharf waren die Kreuze und Denkmäler zu erkennen. Lisa konnte auch das frisch ausgeworfene Grab sehen, in dem der alte Leitner beerdigt werden sollte.
Lisa ging noch einen Meter weiter. Feuchte Blätter strichen wie Finger über ihr Gesicht oder raschelten gegeneinander, vom kühlen Nachtwind bewegt.
Schließlich erreichte Lisa die Stelle, die sie gesucht hatte. Ein kleines hüfthohes Eisentor unterbrach die Friedhofsmauer. Es wurde so gut wie nie als Eingang benutzt und hatte schon Rost angesetzt. Das Tor war nicht verschlossen, und Lisa wußte es.
Sie drückte die gebogene Klinke und hielt den Atem an, als sie das Tor aufstieß und das Quietschen der Angeln ihr vorkam, als müßte man es meilenweit hören können.
Lisa schob das kleine Tor nur so weit auf, daß sie gerade hindurchschlüpfen konnte. Die Frau blieb nach zwei Schritten stehen und schloß das Tor auch nicht wieder, um sich so einen günstigen Fluchtweg offen zu lassen.
Kies knirschte unter Lisas derben Schuhsohlen. Die einzelnen Wege waren sehr gepflegt und zogen sich schachbrettartig über den Totenacker. Lisa hielt ihr Kreuz fest umklammert. Das dunkelbraune handwarme Holz strahlte eine gewisse Beruhigung aus. Noch nie war Lisa nachts allein auf dem Friedhof gewesen. Selbst die Gräber ihrer Eltern hatte sie nur am Tage besucht. Vater und Mutter waren im Nachbarort bestattet worden, aus dem Lisa auch stammte. So leise wie möglich ging sie weiter. Der Geruch von verfaultem Laub und frisch aufgeworfener Erde drang in ihre Nase. Lisa mußte den Kopf einziehen, um unter den Zweigen einer hohen Trauerweide hergehen zu können.
Die Weide verdeckte einen Teil der Leichenhalle an der Nordseite des Friedhofes. Die Halle war aus großen Steinquadern errichtet worden, die im Laufe der Zeit eine Haut aus Moos und Efeu bekommen hatten.
Vor dem zweiflügeligen Holztor blieb Lisa stehen. In das Holz waren lateinische Sprüche geschnitzt worden, deren Sinn die Frau nicht verstand.
Schräg fiel das Mondlicht auf die Messingklinke und ließ sie aufglänzen wie einen Spiegel.
Zum erstenmal bekam Lisa Angst vor ihrer eigenen Courage. Sie fürchtete sich plötzlich, die Leichenhalle zu betreten, und trat instinktiv einen Schritt zurück. Aber dann faßte sie sich ein Herz und drückte die schwere Klinke nach unten.
Die Tür war verschlossen.
Lisa fiel ein Stein vom Herzen. Die Entscheidung war ihr jetzt abgenommen worden. Gleichzeitig jedoch durchzuckte ein Gedanke ihr Hirn. Wie hatte dann der alte Leitner die Leichenhalle verlassen können? Lisa dachte an die Fenster an den beiden Seitenfronten der Leichenhalle. Sie waren von innen zu öffnen, und man konnte so ohne weiteres die Halle verlassen.
Lisa wandte sich nach rechts und hatte dann die Längsseite der Leichenhalle erreicht.
Weitere Kostenlose Bücher