GK0176 - Der Alptraum-Friedhof
Sie ging dicht an der Mauer entlang und stand plötzlich vor dem ersten Fenster.
Es war schmal und hoch. Die Scheibe war mehrmals unterteilt, und Lisa mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um hindurchsehen zu können.
In einem verwaschenen Grau lag das Innere der Leichenhalle vor ihr. Die Frau konnte so gut wie nichts erkennen, sämtliche Konturen verschwammen.
Fast eine Minute starrte sie durch die Scheibe, bis die Augen anfingen zu tränen. Schließlich fiel ihr ein, daß sie vergessen hatte zu prüfen, ob das Fenster offen war. Sie streckte die Hand aus und drückte gegen die Scheibe.
Das Fenster schwang zurück.
Die plötzliche Erkenntnis traf Lisa wie ein Schlag. Obwohl sie eigentlich damit gerechnet hatte, kam diese Entdeckung für sie doch überraschend.
Dann habe ich also recht gehabt, dachte sie.
Dann ist der alte Leitner…
Sie kam nicht mehr dazu, den Gedanken weiterzuspinnen. Hinter ihrem Rücken hörte sie plötzlich ein Geräusch.
Lisa wirbelte herum.
Da packte sie das nackte Entsetzen.
Drei Schritte vor ihr stand der alte Leitner!
***
Lisa war in diesen Sekunden des Schreckens unfähig zu schreien und auch nicht in der Lage, sich zu rühren. Sie konnte nur die gräßliche Gestalt des Toten anstarren, der aussah, als wäre er einem Horrorfilm entsprungen.
Das Mondlicht fiel direkt auf das weiße, jetzt schon fleckige Hemd der lebendigen Leiche. Die Haut auf dem Gesicht und den Händen war eingefallen, tief lagen die Augen in den Höhlen. Der Tote hatte den zahnlosen Mund geöffnet, und ein widerliches Kichern drang über seine kaum zu erkennenden Lippen.
»Grüß dich, kleine Lisa«, geiferte er. »Hattest du Sehnsucht nach mir? Wolltest du mir einen Gegenbesuch abstatten? Das finde ich aber nett von dir. Komm her, ich lade dich ein. Komm.«
Der Tote streckte seinen rechten Arm aus.
»Nein!« flüsterte Lisa. »Nein und nein! Ich will nicht. Ich will…« Sie brach ab und wollte auf dem Absatz kehrtmachen, um wegzulaufen, doch da hatte der Tote schon zugepackt.
Er bekam Lisa am linken Oberarm zu fassen. Seine knochigen Finger wirkten wie ein Schraubstock. Lisas Muskeln wurden zusammengepreßt, der Schmerz ließ sie aufschreien, und da traf ein harter Schlag ihren Rücken und schleuderte sie zu Boden. Mit dem Gesicht, zuerst fiel Lisa auf die lehmige Erde. Dreck wühlte sich in ihren Mund, verstopfte die Nasenlöcher. Das Kreuz wurde ihr aus der Hand gerissen. Zwei Hände gruben sich in den Stoff ihres Pullovers. Schmerzhaft drangen die spitzen Fingernägel in das Fleisch.
Lisa wurde hochgerissen. Der Tote verfügte über erstaunliche Kräfte. Lisa würgte und keuchte, spie Erde, Speichel und Dreck aus. Alles drehte und bewegte sich vor ihren Augen. Sie war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Dann hörte sie die Stimme dicht neben ihrem Ohr.
»Du wolltest mich ja besuchen, nicht wahr, kleine Lisa? Ich habe mich darüber gefreut, und ich habe auch schon einen Ehrenplatz für dich. Warte es nur ab.«
Ein Ruck ging durch ihren Körper, als sie weitergeschleift wurde.
Durch den Tränenschleier sah sie, wie sie sich auf das frisch ausgeworfene Grab zubewegten.
»Ein nettes Plätzchen!« kicherte der alte Leitner. »Wirklich ein nettes Plätzchen.«
»Nicht!« flehte die Frau. »Bitte, ich…«
Sie wollte sich gegen den Griff stemmen, doch ihre Kräfte reichten nicht aus. Sie bekam noch einen harten Stoß in den Rücken und fiel geradewegs in die feuchte, kühle Grube.
Oben am Rand stand der Tote und lachte hämisch.
***
Kuchen, Weißbrot, Kaffee, Wurst, Käse – das alles bekam Kommissar Will Mallmann zum Frühstück vorgesetzt. Gekrönt wurde das ganze durch ein supergroßes Ei, das die Serviererin mit einem freundlichen Lächeln vor den Kommissar hinstellte.
»Das ist ja sagenhaft«, sagte Will Mallmann, und seine Augen begannen zu strahlen. »Aber wenn ich meinen Urlaub hier beendet habe, dann wiege ich bestimmt zwanzig Pfund mehr.«
Die Serviererin hob die wohlgerundeten Schultern. »Sie können es ja hinterher wieder abtrainieren.«
»Das schafft ja kaum jemand.«
Kommissar Mallmann lehnte sich behaglich in seinem Stuhl zurück und goß sich eine Tasse Kaffee ein. Dabei glitt sein Blick durch die große Scheibe des Frühstücksraumes hinaus in den Garten des Hotels. Die Morgensonne schickte ihre Lichtstrahlen wie breite Speere über das Land und vertrieb die letzten Nebel. Die Blätter der Bäume waren schon von der Jahreszeit angemalt worden.
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