GK0200 - Das Todeskarussell
Kind. Es wurde von seiner Mutter fest an die Brust gedrückt. Die nackte Angst stand in den Gesichtern der Zigeuner zu lesen. Sie hörten das Schreien der Menschen im Dorf. Der Widerschein zahlreicher Fackeln tanzte über die Häuserwände.
Der Mob war unterwegs!
Schritt für Schritt näherte er sich dem Zigeunerlager. Mindestens ein halbes Hundert zu allem entschlossene Menschen.
In der Hütte umklammerte Chandra die Schale mit beiden Händen. Langsam führte er sie zum Mund.
Die Beschwörungen hatten aufgehört. Die Stille im Innern war fast körperlich fühlbar.
Marco stand immer noch an der Tür. Plötzlich hörte er Chandra schmatzen und schlürfen. Als er daran dachte, was hinter seinem Rücken geschah, bekam er eine Gänsehaut. Er wagte sich kaum umzudrehen, faßte sich aber dann doch ein Herz und bekam noch mit, wie Chandra sich den Mund abwischte.
Den Tonkrug hatte er wieder auf die Kiste gestellt.
Er war leer.
Und auch der Ring war verschwunden. Er hatte sich durch die magische Beschwörung im Blut aufgelöst.
Auf einmal begann Chandra zu lachen. Mit einer wilden Bewegung warf er den Mantel von sich, breitete beide Arme aus und rief: »Sollen Sie nur kommen, diese Hunde. Jetzt sind wir unbesiegbar.«
Er ging auf Marco zu, der ihm schweigend Platz machte. Mit dem Fuß trat Chandra die Tür auf – und stand im Freien.
Die Zigeuner wichen zurück. Eine Frau schrie auf. Auch die Männer sahen, was mit Chandra geschehen war.
Er hatte sich verändert. Sein Gesicht war blutrot geworden, und kleine Flammen züngelten über seinen Schädel.
Zwei alte Männer fielen auf die Knie und begannen Gebete zu murmeln. »Hört auf!« brüllte Chandra die beiden an. »Jetzt braucht ihr keine Angst mehr zu haben, denn ich bin Chandra – der Flammenmann!«
***
Der Mob kam!
Immer mehr Männer hatten sich eingefunden. Schreiend und brüllend stürmten sie durch das Dorf, schwangen Äxte, Heugabeln, Flinten und Gewehre. Die Gesichter waren verzerrt, der Haß machte die Menschen blind. Sie wollten die Zigeuner endgültig vernichten. Jetzt hatten sie einen Grund. Der Überfall auf den Knecht war das auslösende Moment gewesen.
Anführer dieser Horde war der Großbauer Wilson. Wilson war ein starkknochiger Typ, besaß einen gewaltigen Vollbart, buschige Brauen und grün schimmernde Augen.
»Nieder mit dem Pack!« brüllte er und schwang sein Gewehr. »Ja, wir werden sie massakrieren!« schrie Tatum, Wilsons Sohn, mit kreischender Stimme.
Und sie stapften vorwärts, eine menschliche Walze, die sich nicht mehr aufhalten ließ.
Auch Frauen hatten sich dem Mob angeschlossen. Sie hielten sich jedoch mehr im Hintergrund.
Jetzt hatte die Menge die Kirche erreicht. Aus dem kleinen Pfarrhaus stürzte der Pfarrer. Er war schon älter, und es bereitete ihm Mühe, sich in dem hohen Schnee auf den Beinen zu halten. Er schaffte es trotzdem, sich mit ausgebreiteten Armen vor den Anführer zu stellen.
»Halt!« rief der Pfarrer. »Keinen Schritt weiter!«
Wilson war stehengeblieben. Der Atem dampfte vor seinen Lippen. Die Felljacke stand offen. Eiskristalle hatten sich in seinem Bart verfangen. Die Finger umklammerten das Gewehr.
»Aus dem Weg!« brüllte er.
»Nein! Ihr habt nicht das Recht, die Menschen zu bestrafen. Das allein darf nur Gott!«
Wilson lachte. »Spar dir deine Reden, Prediger. Einer von diesen Hunden hat meinem Knecht das Messer in die Brust gerammt. Soll ich dem noch dankbar sein? Nein, jetzt bekommen die verdammten Zigeuner, was ihnen zusteht. Einen haben wir schon gekillt. Ha, ha, ha…«
Der Pfarrer sah ein, daß er die Leute nicht mehr aufhalten konnte. Wilson war von einer wahren Mordwut besessen. Da der Pfarrer nicht freiwillig Platz machte, faßte Tatum Wilson zu, hob den Mann hoch und warf ihn in den Schnee.
Dann ging der Mob weiter. Pechfackeln wurden geschwungen. Schreie gellten zum Nachthimmel. Und in den Herzen der Menschen tobte der Haß.
Es war eine schreckliche Zeit.
Wilson erreichte als erster den Platz der Zigeuner. Er riß die Flinte an die Schulter und schoß in die Luft.
»Hört her, ihr Drecks…«
Die weiteren Worte blieben dem Großbauern Wilson buchstäblich im Halse stecken. Auch hinter ihm wurde es ruhig. Die Menschen hatten sich verteilt, hatten einen Halbkreis gebildet, und alle sahen die Gestalt, die plötzlich in der Mitte des Platzes stand. Direkt vor dem verschneiten Karussell.
Es war Chandra – der Flammenmann!
Jeder spürte die dämonische Aura, die von diesem
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