GK0200 - Das Todeskarussell
verschwamm vor seinen Augen. Wilson begann zu zittern, und ein dumpfes Ächzen drang aus seiner Brust. Fred Wilson lachte plötzlich. Oder vielmehr der Kopf unter seinem Arm.
Es war ein wissendes, höhnisches und gleichzeitig triumphierendes Lachen, und es sah grauenhaft aus, wie sich der Mund bewegte und die abgehackten Laute hervorstieß.
Fred Wilson war gekommen, um seinen Auftrag auszuführen. Chandras Rache nahm ihren Fortgang.
Wie ein kleiner schlanker Turm saß der Halsstumpf auf seinen Schultern. Den Kopf hatte Fred Wilson unter den rechten Arm geklemmt. Die Augen darin bewegten sich rollend.
»Deine Stunde ist gekommen, Tatum Wilson«, sagte der Kopf mit grollender Stimme. »Die Geister des Jenseits warten auf dich. Und Chandra, der Zigeunerfürst, dessen Rache du heraufbeschworen hast. Du wirst mit mir kommen auf das Todeskarussell und von dort aus die Fahrt ins Reich des Grauens antreten. Und nichts, aber auch gar nichts kann dich davor retten.«
Tatum Wilson stöhnte gequält. Er wankte zurück und stieß mit dem Rücken gegen den Gewehrschrank. Seine eigene Waffe kam ihm plötzlich zentnerschwer vor, der Lauf senkte sich immer mehr dem Boden entgegen.
Fred Wilson bemerkte dies, und der Kopf begann wieder zu lachen. Der Untote trug noch die Kleidung, die vor einigen Jahrzehnten modern gewesen war, einen zweireihigen Nadelstreifenanzug mit wattierten Schultern und breiten Hosenbeinen.
»Ich hoffe, daß du freiwillig mitkommst«, sagte der Kopf. »Dein Gewehr nutzt dir nichts. Dort wo ich herkomme, wird mit anderen Waffen gekämpft.«
»Nein!« keuchte Wilson. »Nein, du wirst mich nicht mitnehmen, du Satan, du. Ich werde dich endgültig töten. Ich…«
»Du Narr!« Fred Wilsons Kopf sprach die Worte aus. Dann setzte sich der Unheimliche in Bewegung. Er streckte die linke knochige Hand aus und kam geradewegs auf den schreckensstarren Tatum Wilson zu. Der Teppich war wie Moos, die Schritte des Untoten kaum zu hören. »Chandra wartet«, sagte er. »Du bist der letzte Wilson, der in sein Reich geholt wird. Und mich hat er als Boten geschickt.«
Jetzt trennten Fred Wilson nur noch drei Schritte von seinem Neffen. Er stand genau unter der Deckenleuchte, die ihren Schein über den Unheimlichen ergoß.
Und es kam der Zeitpunkt, als Tatum Wilson seine erste Angst überwunden hatte, als er wieder an das Gewehr in seiner Hand dachte.
Er riß die Waffe hoch, preßte den Kolben in die rechte Armbeuge und schoß.
Der Knall hörte sich an, als wolle er das ganze Zimmer auseinandertreiben. Die Kugel fegte aus dem Lauf und drang dem Unheimlichen knapp oberhalb des Hosengürtels in den Körper. Fred Wilson zuckte zusammen.
Wieder feuerte der Bürgermeister, setzte die Kugel nur eine Handbreit neben die erste.
Die beiden Einschüsse schüttelten den Untoten durch, warfen ihn aber nicht um. Und es drang kein Tropfen Blut aus den Wunden. Der Kopf lachte statt dessen. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich mit normalen Waffen nicht zu töten bin. Du kannst mich nicht aufhalten, Tatum!«
Mit einem dumpfen Geräusch polterte das Gewehr zu Boden. Der Bürgermeister hatte es fallen gelassen. Für ihn brach eine Welt zusammen. Er verkraftete das nicht mehr. Plötzlich verdrehte er die Augen und rutschte ohnmächtig zu Boden. Sein Rücken glitt über die Tür des Waffenschranks. Der Schlüssel brach ab.
Tatum Wilsons Körper neigte sich langsam zur Seite. Mit zwei Schritten war Fred Wilson bei ihm. Er bückte sich, um mit der linken freien Hand den Bewußtlosen hochzuziehen.
Im gleichen Augenblick schlug die Türklingel an…
***
Es war kühler geworden. Dunstschleier lagen fahnenartig über den kleinen Straßen und Gassen. John Sinclair schlug seinen Mantelkragen hoch. Inspektor Fenton und der Pfarrer taten es ihm nach. Der Pfarrer schloß die Haustür ab. »Weit ist es nicht«, sagte er und steckte den Schlüssel in die Manteltasche. »Wir können zu Fuß gehen.«
John nickte.
Fenton sagte nichts. Er kaute nur nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Der Inspektor hatte sich in den letzten Minuten zurückgehalten. Wahrscheinlich war ihm klargeworden, daß er dem Geisterjäger doch nicht das Wasser reichen konnte.
Der Pfarrer übernahm die Führung. »Ich zeige Ihnen den Weg«, sagte er.
Die Männer gingen schweigend durch das Dorf. Es lag in tiefer Stille.
Brickaville gehörte zu den Orten, in denen um zweiundzwanzig Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden, wie in einem Witz so gern erzählt wird.
Auf
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