GK078 - Das Todeslied des Werwolfs
Büro anzutreffen, deshalb sagte ich seiner Sekretärin, was sie ihm bestellen sollte, und ich nannte ihr auch meine derzeitige Telefonnummer.
Dann kam Vicky herein.
Sie trug einen knappen roten Pulli und einen grauen Sportrock, der aufregend um ihre Hüften saß.
»Fertig?«, fragte ich.
»Fertig«, nickte sie.
Vicky hatte den Wunsch geäußert, einem Karateklub beizutreten. Wir hatten einen ausgezeichneten Klub für sie gefunden. Heute war Vickys erster Trainingstag. Ich fand es gut, dass sie lernen wollte, was ich bereits konnte. Nichts ist wichtiger als die Selbstverteidigung. Speziell in unserem Fall.
Wir verließen die Wohnung.
Ich brachte Vicky zu ihrem Klub und fuhr dann gleich weiter.
Wir hatten den Zeitpunkt vereinbart, an dem ich sie wieder abholen sollte. Dazwischen lagen zweieinhalb Stunden, die ich nicht ungenützt lassen wollte.
Einige Telefonate hatten mir um die Mittagszeit das Wissen vermittelt, dass Alice Rack einen Bruder namens Ken gehabt hatte.
Ken Rack war angeblich dreißig Jahre alt und ein ausgezeichneter Geschäftsmann. Er hatte mit zwanzig Jahren einen Buchverlag gegründet und hatte seither mit dem nötigen Fingerspitzengefühl pro Jahr mehrere Bestseller im großen Rennen der englischen Buchverlage landen können.
Ich war neugierig, wie Alices Bruder aussah.
Das Verlagshaus war ein moderner Bau aus Marmor, Glas und Stahl. Eine kühne Konstruktion. Recht eigenwillig im Stil. Gewiss war Rack ebenso eigenwillig.
Aus dem Branchenregister hatte ich erfahren, dass sich Ken Rack mit einem Mann namens Francis Stevenson zusammengetan hatte. Stevenson war mir dem Namen nach nicht unbekannt. Der Mann hatte ausgezeichnete Verbindungen zum Königshaus und zur Regierung.
Das war ein großer Vorteil gegenüber anderen, vielleicht größeren Buchverlagen.
Also hatte Ken Rack auch mit der Wahl seines Kompagnons ein ausgezeichnetes Fingerspitzengefühl bewiesen.
Rack war nicht da.
Ich hatte große Schwierigkeiten, überhaupt in die Tiefe des Verlagshauses vorzudringen. An den Wänden hingen die Fotos der Bestsellerautoren, die Rack unter Vertrag hatte. Und um diese Fotos herum waren die Werke dieser Autoren gruppiert.
Man lief auf dicken Teppichbrücken und schaute aus großen Fenstern in einen herrlich grünen Innenhofgarten.
Es gab einen verspielt hoch spritzenden Springbrunnen und Goldfische in einem Teich.
Ich musste all meine Überredungskunst aufbieten, um schließlich doch Gnade vor den maßgeblichen Leutchen zu finden.
Das Ergebnis war dann eine Audienz bei Racks Kompagnon. In dessen Büro herrschte Rosenholz vor. An den Wänden hingen Bilder neuzeitlicher Maler. In einem Glasschrank standen kunstgeschichtliche Bildbände, die der Verlag mit gutem Erfolg auf den Markt brachte.
Ich wurde von Stevenson wie einer seiner Bestsellerautoren bewirtet, bekam reichlich Henessy, und ich hätte mich quer durch die in- und ausländische Zigarettenproduktion rauchen können, wenn ich Raucher gewesen wäre.
Ich blieb jedoch bei meinen Lakritzbonbons.
Francis Stevenson hatte das Gesicht eines schlauen Fuchses. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen und funkelten listig. Für meinen bescheidenen Geschmack war sein Blick etwas zu überheblich. Und sein Lächeln war mir ein bisschen zu glatt. Man konnte ganz deutlich erkennen, dass es nicht echt war.
Stevenson sah so aus, wie man sich einen norwegischen Hünen vorstellt. Breitschultrig, kernig, kräftig. Wenn er gesagt hätte, er wäre Holzfäller, hätte ich ihm das eher abgenommen als den Verlagsbesitzer.
Er hatte silbergraues Haar, war vierzig und rauchte die dicksten Zigarren, die ich jemals gesehen hatte.
Als ich ihm mit der mir eigenen Gründlichkeit erklärte, weshalb ich hier aufgetaucht war, wurde er merklich unruhig.
Das machte mich stutzig.
Was für einen Grund mochte er für diese Unruhe haben?
Schlechtes Gewissen?
Die Art, wie Alice Rack, die Schwester seines Kompagnons, ums Leben gekommen war?
»Ken ist mit seinen Nerven total runter, Mr. Ballard«, eröffnete mir Racks Kompagnon.
»Er hat wohl sehr an seiner Schwester gehangen«, äußerte ich.
»Er hat sie vergöttert.«
»Wohnte sie in seinem Haus?«
»Sie wohnten beide im Haus ihrer verstorbenen Eltern.«
»Aha«, machte ich nachdenklich. Ich ließ den Henessy im Glas kreisen. Dann setzte ich das Glas an die Lippen und nippte kurz.
Stevenson und ich saßen einander in ledergepolsterten Sesseln gegenüber, deren Beine aus blitzendem Chrom bestanden. Sehr teuer.
Weitere Kostenlose Bücher