GK112 - Der Geist der Serengeti
Ryan war nicht abgereist, wie Mikumi mir weismachen wollte.
»Ngassa hat ihn sich geholt«, sagte Ndutu kleinlaut. »Er hat ihn genauso geholt wie Mr. Harlock, Mr. Just und Mr. Selby.«
Ich bat den Boy, mir etwas über Ngassa zu erzählen.
Und so erfuhr ich die ganze Dämonenstory, die man sich hierzulande von dem seltsamen Löwen erzählte, dessen Mähne weiß war und dessen Kopf ein menschlicher Totenschädel war.
Konnte Mikumi mit Ngassa gemeinsame Sache machen?
Ich fragte den Jungen.
»Möglich wäre es, Mr. Ballard. Aber ich kann das nicht beweisen.«
»Was treibt Mikumi so den ganzen Tag, wenn er sich nicht um seine Gäste kümmert?«, fragte ich den Massai.
»Er schließt sich oft in sein Zimmer ein.«
»Und was tut er da?«
»Heute Morgen habe ich ihn dabei beobachtet, wie er ein Fernglas aus dem Schrank nahm.«
»Wollte er damit eine sonnenbadende Lady beobachten?«, fragte ich grinsend.
»Nein, Sir. Ich wunderte mich darüber, dass er sich zur Wand drehte, als er das Fernglas zur Hand nahm.«
»Vielleicht kann er mit diesem Ding durch Wände sehen«, sagte ich.
Ndutu zuckte die Achseln.
»Er bewahrt es in seinem Schrank auf, sagst du?«, fragte ich.
Ndutu nickte.
Ich meinte: »Vielleicht ergibt sich mal eine günstige Gelegenheit für mich, einen Blick durch dieses Fernglas zuwerfen.«
»Sir!«, sagte der Boy mit weit aufgerissenen Augen. »Sie müssen sehr vorsichtig sein!«
»Das werde ich.«
»Mikumi kann sehr grob sein.«
Ich grinste den Jungen an.
»Auch ich kann verdammt grob sein, Ndutu. Ich glaube nicht, dass Mikumi mich darin übertrumpfen würde.«
Ich bat den Massai, sich weiter um seinen Boss zu kümmern.
Er zog sich zurück.
Ich war froh, in ihm einen aufrichtigen Verbündeten gefunden zu haben, auf den ich mich verlassen konnte.
***
Das Abendessen war echt britisch.
Das Steak war halb durch. Der Teller war reich garniert. Ich trank englisches Bier dazu.
Mir gegenüber saß ein Mann mit Brille. Er war fünfunddreißig und so groß wie ich, aber ich war etwas breiter gebaut. Sein dichtes braunes Haar glänzte seidig.
Er hatte eisigblaue Augen in einem tief gebräunten Gesicht. Wenn er lächelte, entblößten seine Lippen ein kräftiges Gebiss. Er trug ein zitronengelbes Hemd und Khakihosen.
Mir zuliebe sprach er englisch, obwohl er aus Polen stammte. Er war nach Österreich emigriert und besaß da eine Brillenfabrik.
Sein Name war Vadek Rodensky.
»Schon mal in der Serengeti gewesen, Mr. Ballard?«, fragte er mich, als wir beim Drink angelangt waren.
Er rauchte Zigarren.
»Ich war mal in Uganda«, gab ich zurück.
Ndutu brachte noch mal dasselbe.
Rodensky hatte mich dazu eingeladen.
Als sich der Boy weit genug von uns entfernt hatte, wies der polnische Österreicher hinter ihm her und sagte: »Ist ein Massai.«
»Ich weiß.«
»Sind eigentlich Nomaden.«
»Ist mir bekannt.«
»Hatten Sie mit den Massais schon mal zu tun, Mr. Ballard?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hatte noch nicht das Vergnügen.«
»Sind nette Burschen«, sagte Rodensky. »Aber Sitten haben die…« Er schüttelte den Kopf und zog ein paar Mal an seiner dicken Zigarre.
»Was für Sitten?«
Rodensky beugte sich vor.
»Wissen Sie, was die mit ihren eben gestorbenen Eltern oder Verwandten machen?«
»Nein.«
»Eine grausige Praxis, sage ich Ihnen. Obschon sie ein sehr schönes Familienleben haben, das durch zahlreiche streng befolgte Gebräuche geregelt ist, lassen sie alle Rücksicht fallen, sobald ein Mitglied des Haushaltes sterbenskrank wird oder gestorben ist. Weder unternimmt man das Geringste, um es zu heilen, noch gibt es irgendwelche Beerdigungen.«
»Keine Beerdigungen?«, fragte ich verwundert.
Rodensky schüttelte den Kopf.
Er kam so richtig in Fahrt. Seine Augen hinter den Brillengläsern leuchteten.
Er war froh, jemanden gefunden zu haben, bei dem er sein Wissen loswerden konnte.
»Die Toten«, sagte er, »und - was natürlich noch viel schlimmer ist - sogar die Kranken und Sterbenden werden außerhalb der hohen und mit Dornen bewehrten Umzäunung, die die ganze Siedlung umgibt, einfach ausgesetzt. Ist das nicht barbarisch?«
»Jedes Volk hat eben so seine Sitten«, sagte ich.
»Ich bin jedenfalls froh, nicht hier, sondern in Österreich zu leben«, sagte Vladek Rodensky schaudernd.
Er erzählte mir, dass er sich anlässlich einer Fotosafari hier aufhielt. Und das nicht zum ersten Mal. Er kam jedes Jahr nach Ostafrika.
Und er fragte mich, ob ich aus dem
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