Glaesener Helga
Schrank. Vincenzo. Der Kopf war in brillanten Rot- und Violetttönen gehalten. Als stünde der Porträtierte im Fegefeuer, dachte Cecilia, und vielleicht hatte Roberta es auch so gemeint. Sie trat näher. Vincenzos Augen – schwarz, aber auch in ihnen ein Schimmer Rot – stierten sie an, mit einem Blick, der sich förmlich an ihr festzusaugen schien. Als wäre das Bild eine Tarnung für einen Beobachter, der sich hinter der Leinwand verbirgt, dachte Cecilia. Sie tat versuchsweise ein paar Schritte zur Seite – die Augen schienen ihren Bewegungen zu folgen. In ihnen lag ein intensiver, bösartiger Ausdruck, der auch den Mund mit den üppigen Lippen beherrschte.
»Bemerkenswert, was?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nichts von Kunst, aber es kommt mir vor … Roberta hat kein Gesicht gemalt, sondern … ein Innenleben. Sie scheint nicht viel von dem Jungen zu halten.«
»Sie meint, Vincenzo sei bösartig.«
»Tatsächlich?«
Arthur schien seine Gäste vermisst zu haben. Er trat aus dem Salon und gesellte sich zu ihnen. »Unheimlich, nicht wahr? Roberta brauchte nicht länger als einen Vormittag, um dieses Gemälde zu schaffen. Allein das ist schon bemerkenswert, aber noch erstaunlicher fand ich, dass Vincenzo so lange still sitzen konnte. Gewöhnlich ist der Junge so zappelig, dass er es nicht fünf Minuten auf einem Fleck aushält.«
»Wo wurde es gemalt?«, fragte Rossi »In seinem Zimmer. Schau, man sieht hinter der Schulter die Topfblume. Vincenzo liebt Blumen.«
»Die beiden haben sich angefreundet?«
»Das glaube ich nicht«, meinte Arthur nüchtern. »Ich denke, Roberta reizte das Modell. Sie war plötzlich wie besessen von dem Wunsch, den Jungen zu malen. So ist es bei ihr. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bekommt es eine enorme Wichtigkeit für sie. Nichts anderes hat mehr Bedeutung. Ich halte das für einen Teil ihrer Krankheit.«
Und was wäre sie bereit, für diese Besessenheit zu zahlen?, fragte sich Cecilia, die immer noch auf die infernalischen Augen starrte. Aber sie sprach es nicht laut aus, nicht vor Arthur. Erst als sie später mit Rossi zurückfuhr, brachte sie das Thema darauf.
»Du meinst, Roberta könnte Vincenzo für seine Geduld mit einem Schlüssel bezahlt haben?«
»Arthur sagt es doch selbst: Sie ist besessen. Und im äußeren Trakt wäre es bestimmt einfacher, an die Schlüssel zu kommen. Ich habe ihn im Flur gesehen, und er hat mich angebellt!«
Rossi knurrte etwas.
»Warum glaubst du mir nicht?«, fragte sie leise und aufgebracht. Eine Weile fuhren sie schweigend. Er versuchte, Emilia anzutreiben, aber das Pferd war müde und blieb in seinem Trott.
»Was hältst du von einer Spazierfahrt?«, fragte er schließlich.
»Bitte?«
»Nach Pistoia«
»Warum denn Pistoia?«, fragte sie verwundert.
Die Stadt lag im Glanz des Frühlings. Der Regen der letzten Wochen hatte die roten Schieferdächer sauber gespült, so dass sie den Sonnenschein widerspiegelten. Die Mauern trugen grauen Samt, der Kathedralenturm mit seinen weißen, sich zum Himmel verjüngenden Stockwerken blitzte wie eine Hochzeitstorte. Rinderherden stapften in eingezäunten Arealen auf den Wiesen vor der Stadt, und hier und da blühten bereits die Ulmen.
»Nun ist der Winter wirklich vorbei«, sagte Cecilia zu Rossi und öffnete den Kragen ihres Mantels.
Sie würden Pistoia nicht betreten müssen. Vincenzos Familie hatte ihr Zuhause vernünftigerweise außerhalb vom Gestank der Gossen und Latrinen der Stadt errichtet. Hübsch hatten sie es. Das Haupthaus war von einem Architekten mit Sinn für Proportionen auf der obersten Ebene eines terrassenförmig angelegten Gartens errichtet, wo es wie eine gelbe Krone auf dem Haupt der Mutter Natur thronte. Dem Erdgeschoss war ein Arkadengang vorgesetzt, über den Arkaden erstreckte sich der Eingangsbereich, der entsprechend der Mode mit einem Dreiecksgiebel versehen war. Eine geschwungene Zwillingstreppe führte hinauf.
»Protzig«, kommentierte Rossi. »Ich habe den Eindruck, dass du dich für deinen Teil der Aufgabe wirst anstrengen müssen.«
»Und welches ist mein Teil der Aufgabe?«
Er lächelte und antwortete nicht. Stattdessen half er ihr aus der Vittoria.
Ein Domestik in einer grünsamtenen Uniform ließ sie ins Haus. Das Vestibül, in dem er sie zu warten bat, war in demselben Grünton wie seine Uniform gehalten. Der Boden wurde von sandfarbenem und weißem Marmor in einem eigenwilligen Labyrinthmuster bedeckt. An den Wänden schimmerten die Gemälde alter
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