GLÄSERN (German Edition)
neben ihr auf dem Fels, wie ein Außenseiter, und traute meinen Augen nicht. Es war wie in meinen Schauerromanen, in denen der Held einem unheimlichen kleinen Geisterkind folgen muss – obwohl er Gefahr verspürt, will er das Geheimnis erfahren, doch er fühlt, dass es Gefahr bedeutet und es nicht richtig ist, was ihm geschieht.
Nun, zweifellos verlor ich Stück für Stück meinen Verstand, seit ich aus Schottland fort war. Raben, die Männer zu Tode hacken, seltsame Bestattungsmethoden, mörderische Besucherinnen mit tödlichem Tand … ein Toter, der eine zweite Chance bekommt … blaue Glühwürmchen.
Alles war doch bis vor wenigen Tagen gut gewesen, und nun musste ich beinahe täglich mit allen möglichen Verrücktheiten zurechtkommen. Ich bemitleidete mich selbst noch ein wenig und danach auch Kieran, der um jeden Atemzug hart kämpfte. Die Grafentochter erhob sich und ich sah sein Gesicht in der aufgehenden Sonne. Es lag zur Seite gedreht, die blutunterlaufenen Augen halb geöffnet. Blut sickerte aus seinem Mund, unwirklich rot und glänzend, und sah in dem violetten Morgenlicht gänzlich unnatürlich aus. Sein Haar war schweißnass und die langen Strähnen klebten auf dem großen Stein, wie die Tentakeln des Kraken aus meinem Naturbuch. Ich strich hilflos über einen seiner schlaffen Arme. Hinter uns erklang wieder ein heiserer Ruf. Ich wandte mich um und erkannte drei der Servants auf dem Berg zu uns herunterblicken. Ich rief und machte ihnen ein Zeichen, dass sie eine Sense oder ein anderes bäuerliches Hilfsmittel holen sollten, um uns hier herauszuholen.
Ich blickte wieder zu dem Jäger hinab. Seine Stimme drang gepresst zwischen Eirwyns streichelnden Fingern hervor, sodass ich ihn kaum verstand.
»Van Sade, du Null. Warum hast du das Vieh nicht zu seinen Ahnen geschickt? Es wäre dir erlaubt gewesen, mir zu helfen«, stieß er hervor.
Lieber Leser, ich bin nicht der schillerndste Stern am Himmel der Götter, will sagen: Heldenmut gehört nicht zu meinen Tugenden, von denen ich, nebenbei bemerkt, doch recht ansehnliche besitze. Doch kann ich nicht von mir sagen, gar nichts getan zu haben. Ich habe die Botin meiner Herrin für diesen beinahe krepierten Zyniker in die ewigen Rabenwelten geschickt. Das würde Folgen haben, denn all das, was Jezabel sah, sah auch Lady Amaranth. Ich wandte mich zu Eirwyn um, die mich unergründlich anstarrte.
»Lass ihn uns nach Hause bringen. Er muss dringend verarztet werden«, sagte ich eilig.
Verteidigen würde ich mich diesmal nicht. Ich erhob mich und rief den inzwischen mit Sensen und Schaufeln bewaffneten Servants zu, sie sollten sich zu uns durchschlagen, um den halbtoten – oder halb lebendigen, wer wusste das schon – Jäger zum Gut zu schaffen. Dass man auch jede Anweisung explizit geben musste! Eirwyn sah mich nach wie vor mit großen Augen an. Ihr ganzer Körper zitterte, sie hatte die Arme so fest um ihren Oberkörper geschlungen, dass ich sie aus ihrer eigenen Umarmung nicht freibekam. Also ließ ich sie schweren Herzens allein hinterhertrotten, um mit Kieran und den Servants so schnell wie möglich zum Gut zurückzukehren.
Als die Sonne glutrot den neuen Tag ankündigte, fühlte ich mich, als würde mein Kopf anschwellen und etwas darin herumschwimmen. Ich stand am Fenster meines Zimmers, die Lider sanken mir immer wieder herab und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Doch mein Geist lies nicht zu, dass ich mich zur Ruhe bettete. Kierans zerschundene Überreste waren inzwischen in sein Zimmer gebracht worden. Eirwyn hatte um einen Moment allein gebeten, und obwohl ich ihren Rückzug weder nachvollziehen wollte noch konnte, ließ ich sie. An einigen Stellen sickerte hin und wieder ein wenig Blut aus dem zerschnittenen Fleisch, und Eirwyn, die der Wald wenig später ebenfalls ausgespuckt hatte, saß still an seinem Bett. Gleich nach Tagesanbruch schickte sie einen Servant nach dem einzigen Doktor der humanitären Medizin . Solcherlei Pharmazie muss man wohl in den deutschen Dörfern stets spezifizieren, da sie einem sonst allerlei quacksalberndes Gesindel schickten.
Als der Arzt kam, verließ ich meinen Lauschposten und zog mich zurück, um noch ein wenig Schlaf zu erhaschen.
Bald darauf klopfte es. Doch nicht an der Tür, wie ich sofort annahm. Es war ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, beinahe wie ein Morsecode oder etwas, das nur noch die alten Seebären verschickten. Es wiederholte sich noch ein paar Mal, und als ich schon an Geister denken
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