GLÄSERN (German Edition)
Gegner, denn die Unerbittlichkeit, mit der sie nun die Flügel spreizte, um sich ihm erneut entgegenzustürzen und nach ihm zu hacken, war martialisch. Ich stand wie versteinert, versuchte verzweifelt zu verstehen, weshalb die gefiederte Botin so hartnäckig nach dem Jäger stieß. Er duckte sich immer wieder unter ihren Sturzflügen hinweg, steckte jedoch einige Schnabelhiebe ein. Eine Waffe hatte er nicht, nicht einmal einen Ast. Sie ließ ihm keine Zeit, um danach zu suchen.
»Verdammte Axt, gib mir einen Stein, Fred! Oder irgendwas!«, schrie er zwischen zwei Attacken.
»Versuch, ihr am besten erst einmal auszuweichen«, schlug ich hilfsbereit vor.
Verwirrt hakte ich meine Finger ineinander, immerhin wollte er Jezabel verwunden oder zu Fall bringen. Sie war ja nicht irgendein räudiges Flattervieh.
Er strafte mich mit einem bitteren Blick und schon traf ihn der nächste Angriff. Sofort hielt er sich den Unterarm, von dem bereits etwas Blut auf den Boden tropfte. Auch an der Wange hatte er eine tiefe Wunde und die Erde sog sich mit Blut voll. Viel Blut, stellte ich schockiert fest. Und Jezabel griff wieder und wieder an – leise, kraftvoll, eins mit den sich lichtenden Nachtschatten.
»Jezabel! Hör auf!«, schrie ich ihr entgegen.
Händeringend lief ich wie ein gehetztes Raubtier um die Kämpfenden herum, suchte nach einer Möglichkeit, meinem Freund zu helfen und gleichzeitig nicht in Gefahr zu gelangen. Immerhin war Jezabel stets an meiner Seite gewesen. Mitten in meiner Grübelei verpasste die Rabin ihm einen besonders harten Hieb über dem Auge und der große Mann ging wie ein Baum zu Boden. Entsetzt rannte ich zu ihm, um ihm aufzuhelfen, doch Jezabel ließ nicht locker, hackte sogar zwischen meinen Armen und helfenden Händen weiter auf jede ungeschützte Körperstelle des Jägers ein. Panisch kroch Kieran auf dem Boden in Richtung Fels. Er keuchte wie im Wahn und ich brüllte ihn an, er solle stillliegen und sich klein machen, damit ich ihn besser schützen könne. Inzwischen blutete er aus vielen kleinen, jedoch erschreckend tiefen Wunden.
Dann passierten zwei Dinge gleichzeitig in dieser morbiden Szenerie. Vor dem violetten, untergehenden Mond ragte die Erscheinung des Lords auf, wie ein Berserker. Ich erschrak so sehr, dass ich mich reflexartig von Kieran zurückzog. Ungeschützt lag er vor mir in seinem Blut. Sandford kam mit großen Schritten auf uns zu, packte ihn sogleich am Kragen, hielt ihn hoch wie einen Welpen, betrachtete ihn mit seltsam glänzenden Augen und schleuderte ihn, ohne zu zögern, über den Rand des Hanges.
Es war schlicht entsetzlich. Einen Augenblick konnte ich mich nicht rühren, doch dann stürzte ich zum Abhang. Ich erkannte noch, wie Kierans kraftloser Körper mehrmals auf den untersten Steinen des tiefen Hanges aufschlug, im freien Fall in das unendliche Dornenmeer stürzte und mit einem scheußlichen reißenden Geräusch gänzlich in den gebogenen Haken hängen blieb. Ich wagte nicht zu atmen, kniete bewegungslos auf dem Boden und starrte wie in Trance hinab, während ich in meinem benebelten Hirn auf ein Anzeichen für einen besonders verwunderlichen Traum hoffte. Ein spitzer Schrei hinter mir schreckte mich auf und zeigte mir die grausame Realität. Der Lord war verschwunden, als wäre er nie dort gewesen, und ich zweifelte sogar selbst einen Moment daran. Statt seiner stürzte nun Eirwyn auf mich zu und starrte ebenfalls hinunter in den Abhang, die Fingernägel in die Lippen gekrallt.
»Wie ist das geschehen?«, schrie sie mich an.
Ich wich zurück, schüttelte nur den Kopf. Mir gefiel nicht, dass wir hier knieten, am Rande eines Abgrunds, unter uns nichts als scharfes und spitzes Gestrüpp, während sich Lord Sandy womöglich noch irgendwo herumtrieb, versteckt im Schatten.
»Wie konnte das nur geschehen!«, kreischte sie jetzt und wand sich in meinen Armen. Ich sah, wie Kierans Leib unter uns nach endlosen Augenblicken zaghaft in Bewegung geriet. Er versuchte, nahezu hilflos, sich mit schwachen Armen aus den Dornen zu befreien. Bald sah er ein, wie sinnlos es war, und ließ erschöpft mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf zurücksinken. Seine ungeschützte Kehle lag bloß und allzu leicht verwundbar. Blut rann von seiner Wange hinab und vermengte sich mit dem Blutschwall am Hals zu einem kleinen Rinnsal.
Eirwyn packte mich am Ärmel. »Schnell, Frederick! Wir müssen ihm helfen!«
Sie war aus ihrer Lähmung erwacht und zog mich unsanft hoch, zerrte an mir
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