GLÄSERN (German Edition)
und wollte Hals über Kopf den Hügel hinabrennen. In der Brust spürte ich plötzlich ein unangenehmes Ziehen. Angst machte sich in mir breit, und noch ehe ich etwas begriff, stürzte Jezabel erneut auf uns herab. Sie schlug wie wild mit den Flügeln nach Eirwyn, drängte sie massiv zurück, bis diese wieder am Rande des Abhangs stand. Ich schüttelte den Kopf, schrie, bettelte, sie solle uns gehen lassen, und Jezabel blickte mir dabei mit ihren ungerührten schwarzen Murmelaugen in die meinen.
Eirwyn schlug mit den Händen nach ihr wie eine Wahnsinnige. Drehte sich im Kreis und plötzlich kippte sie nach hinten, balancierte nur noch auf den Ballen auf festem Boden, griff hektisch mit ihren Fingern nach mir, doch ich erreichte sie nicht mehr rechtzeitig. Es war, als hätte sogar der Wind aufgehört zu wehen, während ich meine Freundin stürzen sah. Sie fiel schier endlos, den Mund weit aufgerissen, doch kein Schrei zerriss die Stille. Dann landete sie, der Göttin sei Dank!, direkt auf Kierans zerschundenem Körper, ohne auf den Felsen aufzuschlagen und sich die feinen Knochen zu zertrümmern. Der Körper des Jägers gab ruckartig nach, wurde noch tiefer in die Dornen gedrückt. In mir zog sich alles schmerzhaft zusammen, wie eine Traube, die zwischen den Fingern gequetscht wird.
Dort unten rührte sich nichts mehr. Meine Freunde bewegten sich nicht. Ich hob meine Augen zu Jezabel, die auf dem Fels Platz genommen hatte. Kaum wagte ich zu sprechen, dennoch fragte ich sie unter Tränen stumm nach dem Warum. Als Antwort legte sie das Köpfchen schief und krächzte einmal leise, als schien sie damit zu sagen: »Weil ich es kann. Und weil ich es so wollte.«
Doch ich wusste genau, dass sie Eirwyn nicht hatte töten wollen. Sie war immerhin der Lady und damit auch dem Auftrag verpflichtet. Sicher, Lady Amaranth ertrug scheinbar die schiere Existenz ihrer Tochter nicht, glaubte man den Schmonzetten der anderen, dennoch war sie noch immer ihr eigen Fleisch und Blut.
Jezabel hüpfte ein wenig auf mich zu und hockte sich plump auf einen Stein neben mich. Ich verlor keinen weiteren Moment mehr, schlug mit der Hand nach dem Vieh, das sich plötzlich garstig krächzend davonmachte, rannte schniefend und entgegen besseren Wissens den Hügel hinab und kämpfte mich ungeachtet des Reißens meiner Kleidung und des Schmerzes durch die nadelspitzen Ranken.
Im Dornental angekommen, ließ mich lautes Hundegebell innehalten. Über mir hatte Sarastro, der alte Köter, den Aufstieg geschafft. Sein Kläffen schallte ohrenbetäubend durch die Nacht und machte plötzlich einem satten Knurren Platz. Ich blickte nach oben. Der irische Wolfshund schnappte nach der noch immer am Boden flatternden Rabenbotin, erwischte sie auch tatsächlich an einem ihrer Flügel. Wie ein alter Lappen hing sie an seinem Maul herab und der treue Hund schmetterte den Schattenvogel wieder und wieder auf den steinigen Boden, bis das panische Zappeln und Krächzen versiegte. Dann warf er mit Schwung den Kopf in den Nacken und verschlang mit einem Happs den nachtschwarzen Vogel. Ich senkte angewidert den Kopf, wartete, bis die Knorpel nicht mehr knackten, und er endlich mit einem ekelhaften Geräusch einzelne Knöchelchen und Federn ausspie. Dann kämpfte ich mich das letzte Stückchen voran, bis zu meinen Freunden.
Es schmerzte mich, dass Eirwyns zarte Haut unendlich viele kleine Risse davongetragen hatte. Ansonsten war sie jedoch unverletzt. So war Kierans Malheur doch nicht ganz unnütz gewesen. Eirwyn war bei Bewusstsein, blickte jedoch ins Leere. Ich nahm sie in die Arme, richtete sie auf und wartete, bis sie auf ihren eigenen Beinen, relativ verschont von den Dornen, stehen konnte.
Der Jäger hing tief im Dornenmeer – zu seinem großen Glück bewusstlos – an seiner Kleidung und zum größten Teil mit den oberen, dünnen Schichten der Haut, in ihr unendlich viele spitze Stacheln wie stumpfe Skalpelle. Vorsichtig lösten wir ihn, wobei wir darauf achteten, dass er so viel wie möglich von seiner Haut behielt. Der ganze Mann hatte sich hoffnungslos verfangen und die Wucht von Eirwyns Sturz machte es nicht gerade leichter, ihn zu befreien. Er sah einfach furchtbar aus. Endlich entfernten wir mit vereinten Kräften auch den letzten Dornenhaken aus Hemd und Schulter. Wir schleppten ihn unter Anstrengungen zu einem riesigen, flachen Fels, wenige Fuß entfernt, auf dem wir ihn achtsam niederlegten. Mit heiserem Gebell kündigte Sarastro irgendjemandes
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