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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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der Pariser Neugier bilden und wie sie auch in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nicht fehlten. Es ist also nötig, eigens darauf aufmerksam zu machen, wie sehr Paris momentan in Ausregung geriet, als sich die Nachricht von der Verhaftung eines spanischen Priesters, der bei einer Kurtisane gefunden worden sei, und von der des eleganten Lucien von Rubempré, des Verlobten des Fräuleins von Grandlieu, verbreitete, den man in dein kleinen Dorf Grez auf der Straße nach Italien verhaftet habe; beide seien sie eines Mordes angeklagt, dessen Erträgnis sich auf sieben Millionen belaufe. Der Skandal dieses Prozesses schwächte ein paar Tage lang das fabelhafte Interesse ab, das die letzten Wahlen unter Karl X. weckten.
    Zunächst war dieser Kriminalprozeß zum Teil die Folge einer Klage des Barons von Nucingen. Dann erregte Luciens Verhaftung in dem Augenblick, als er Privatsekretär des ersten Ministers werden sollte, Aufsehen in der höchsten pariser Gesellschaft. In jedem Pariser Salon entsann sich mehr als ein junger Mann, daß er Lucien beneidet hatte, als er von der schönen Herzogin von Maufrigneuse ausgezeichnet wurde, und alle Frauen wußten, daß er eben jetzt Frau von Sérizy interessierte, die Frau eines der ersten Männer des Staates. Schließlich genoß die Schönheit des Opfers in den verschiedenen Gesellschaften, aus denen Paris besteht, einer merkwürdigen Berühmtheit: in der großen Gesellschaft, in der Finanzwelt, in der Gesellschaft der Kurtisanen, in der Gesellschaft der jungen Leute und bei den Literaten. Seit zwei Tagen sprach also ganz Paris von diesen beiden Verhaftungen, Der Untersuchungsrichter, Herr Camusot, dem die Angelegenheit zugefallen war, sah in ihr eine Möglichkeit der Beförderung, und um mit jeder nur erdenklichen Beschleunigung vorgehen zu können, hatte er angeordnet, daß die beiden Angeklagten von der Force in die Conciergerie überführt werden sollten, sowie Lucien von Rubempré aus Fontainebleau angekommen wäre. Da der Abbé Carlos nur zwölf Stunden, Lucien nur eine halbe Nacht in der Force zugebracht hatte, so ist es nicht nötig, dieses Gefängnis zu schildern, dessen Einrichtung heute eine ganz andere geworden ist; und was die Einzelheiten der Aufnahme angeht, so wären sie nur eine Wiederholung dessen, was sich in der Conciergerie abspielen sollte.
    Aber bevor wir uns auf das furchtbare Drama der Untersuchung in diesem Strafprozeß einlassen, ist es, wie gesagt, unentbehrlich, den normalen Gang eines derartigen Prozesses zu schildern. Zunächst wird man seine verschiedenen Entwicklungsstufen in Frankreich wie im Ausland dann leichter verstehen, und ferner werden alle, die die Ordnung des Strafprozesses, wie sie die Gesetzgeber unter Napoleon festgestellt haben, nicht kennen, sie zu würdigen wissen. Es ist das um so wichtiger, als dieses schöne und große Werk in diesem Augenblick durch das sogenannte Besserungssystem mit der Vernichtung bedroht wird.
    Ein Verbrechen wird begangen. Wenn die Verbrecher auf frischer Tat ertappt werden, so werden die ›Beschuldigten‹ [Fußnote: Hier und lm folgenden sind, soweit wir die gleichen Unterscheidungen nicht kennen, in der Übersetzung für die französischen Begriffe zum Teil Umschreibungen gewählt worden, die sich dem Sinn nach möglichst genau an das Original annähern: Inculpé = Beschuldigter; Prévenu = Untersuchungsgefangener; Accusé = Angeklagter.] in den nächsten Polizeigewahrsam geführt und in jener Zelle untergebracht, die das Volk die ›Geige‹ nennt, vermutlich, weil man dort Musik macht: man schreit und weint. Von dort aus werden die Beschuldigten dem Polizeikommissar vorgeführt, der mit der Untersuchung beginnt und sie freilassen kann, wenn ein Irrtum vorliegt; schließlich werden die Beschuldigten in das Präfekturgefängnis gebracht, wo die Polizei sie dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter zur Verfügung stellt; und diese beiden kommen, je nach der Schwere des Falles mehr oder minder schnell benachrichtigt, und verhören die Leute, die sich in vorläufiger Haft befinden. Je nach Art der Mutmaßungen erläßt dann der Untersuchungsrichter einen Haftbefehl und läßt die Beschuldigten im Untersuchungsgefängnis unterbringen. Paris hat drei Untersuchungsgefängnisse: Sainte-Pélagie, die Force und die Madelonnettes.
    Man beachte den Ausdruck ›die Beschuldigten‹. Unser Kodex hat im Strafrecht drei wesentliche Unterscheidungen geschaffen: die Beschuldigung, die Untersuchungshaft, die

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