Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
sie. Gott durchschaut seine Schöpfung in ihren Mitteln und ihrem Ziel nicht genauer, als dieser Mensch die geringsten Nuancen in der Masse der Dinge und der Menschen unterschied. Mit einer Hoffnung bewaffnet, wie der Letzte der Horatier mit seinem Schwert bewaffnet war, so wartete er auf Hilfe. Jedem anderen außer diesem Machiavelli des Bagnos wäre die Verwirklichung dieser Hoffnung als so etwas Unmögliches erschienen, daß er mechanisch alles mit sich hätte machen lassen, wie es die Schuldigen tun. Keiner von ihnen denkt in der Lage, in die die Pariser Polizei und Justiz den Untersuchungsgefangenen bringen, an Widerstand, am wenigsten jene, die wie Lucien und Jakob Collin in strengem Einzelgewahrsam gehalten werden. Man kann sich die plötzliche Vereinsamung eines Untersuchungsgefangenen nicht vorstellen: die Gendarmen, die ihn verhaften, der Kommissar, der ihn verhört, jene, die ihn ins Gefängnis bringen, die Wächter, die ihn ins ›Loch‹ führen – man nennt es buchstäblich so –, jene, die ihn am Arm fassen, um ihn in die Salatkutsche zu heben, kurz, all diese Wesen, die ihn vom Augenblick seiner Verhaftung an umgeben, sind stumm oder merken sich seine Worte, um sie der Polizei oder den Richtern zu wiederholen. Diese absolute Scheidewand, die auf so einfache Weise zwischen die ganze Welt und den Untersuchungsgefangenen geschoben wird, hat einen vollständigen Umsturz seiner Fähigkeiten, eine ungeheure Bedrücktheit des Geistes zur Folge, und zwar vor allem dann, wenn es ein Mensch ist, der durch sein Vorleben noch nicht mit den Schritten, die die Justiz unternimmt, vertraut ist. Der Zweikampf zwischen dem Schuldigen und dem Richter ist um so furchtbarer, als die Justiz das Schweigen der Mauern und die unbestechliche Gleichgültigkeit ihrer Agenten zu Helfern hat.
Jakob Collin oder Carlos Herrera – es ist nötig, ihm je nach den Umständen den einen oder den andern Namen zu geben – aber kannte das Wesen der Polizei, des Kerkers und der Justiz schon von langer Hand her. Daher hatte denn auch dieser Koloß der List und Verderbtheit alle Kräfte seines Geistes und alle Hilfsmittel seiner Mimik aufgeboten, um täuschend die Überraschung, die Einfalt eines Unschuldigen zu spielen, während er den Beamten zugleich die Komödie seines Todeskampfes gab. Wie man gesehen hat, hatte ihm Asien, jene gelehrte Locusta, ein Gift gegeben, das genau abgestimmt war, um den Schein einer tödlichen Krankheit zu erwecken. Die Wirksamkeit des Herrn Camusot, die des Polizeikommissars und die forschende Regsamkeit des Staatsanwalts waren also durch die Vorspiegelung eines Schlaganfalls auf wirksame Weise lahmgelegt worden.
»Er hat sich vergiftet!« hatte Herr Camusot ausgerufen, entsetzt über die Leiden des angeblichen Priesters, als man ihn unter grauenhaften Krämpfen aus der Mansarde hinabgetragen hatte. Vier Agenten hatten den Abbé Carlos nur mit vieler Mühe über die Treppe in Esthers Schlafzimmer schaffen können, in dem sich die Richter und die Gendarmen versammelt hatten. »Das war das Beste, was er tun konnte, wenn er schuldig ist,« hatte der Staatsanwalt erwidert. »Halten Sie ihn tatsächlich für krank? ...« hatte der Polizeikommissar gefragt.
Die Polizei zweifelt stets an allem. Diese drei Beamten hatten, wie man sich denken kann, flüsternd gesprochen; aber Jakob Collin hatte aus ihren Gesichtszügen erraten, um was sich ihre Mitteilungen drehten; und er hatte das ausgenutzt, um das summarische Verhör, das man im Augenblick einer Verhaftung immer vornimmt, unmöglich oder gänzlich bedeutungslos zu machen; er hatte Phrasen gestammelt, in denen sich das Spanische und das Französische in einer Weise verbanden, daß sie Unsinn ergaben.
In der Force hatte diese Komödie zunächst einen um so vollständigeren Erfolg davongetragen, als der ›Chef der Sicherheit‹ (Abkürzung für: Chef der Sicherheitspolizeibrigade), Bibi-Lupin, der Jakob Collin ehedem in der bürgerlichen Pension der Frau Vauquer verhaftet hatte, mit einer Mission in der Provinz beauftragt war, während ihn ein Agent vertrat, den man Bibi-Lupin zum Nachfolger bestimmt hatte und dem der Sträfling unbekannt war.
Bibi-Lupin, selbst ein Sträfling und ein Genosse Jakob Collins im Bagno, war sein persönlicher Feind. Diese Feindschaft entsprang Streitigkeiten, in denen Jakob Collin stets die Oberhand behalten hatte, und der von Betrüg-den-Tod über seine Gefährten ausgeübten Gewalt. Schließlich war Jakob Collin in Paris zehn
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