Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Anklage. Solange der Haftbefehl nicht unterschrieben ist, sind die vermutlichen Urheber eines Verbrechens oder eines schweren Vergehens ›Beschuldigte‹; unter der Last des Haftbefehls werden sie zu Untersuchungsgefangenen; Untersuchungsgefangene bleiben sie, solange die Untersuchung dauert. Wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, werden sie, sobald das Gericht beschlossen hat, die Hauptverhandlung gegen den Untersuchungsgefangenen zu eröffnen, zu Angeklagten, genauer: nachdem das Gericht zweiter Instanz auf Antrag des Staatsanwalts bestätigt hat, daß genügende Verdachtsmomente vorliegen, um ihn vor ein Schwurgericht zu stellen. So machen die eines Verbrechens Verdächtigten drei verschiedene Zustände durch, sie gehen durch drei Siebe, ehe sie vor der sogenannten Landesjustiz erscheinen. Im ersten Zustand steht den Unschuldigen noch eine Fülle von Hilfsmitteln rechtlich zur Verfügung: das Publikum, die Wache und die Polizei. Im zweiten Zustand stehen sie vor einem Beamten, sie werden den Zeugen gegenübergestellt und in Paris von einer Gerichtskammer, in der Provinz von einem ganzen Gericht unter Anklage gestellt. Im dritten Zustand erscheinen sie vor zwölf Räten, und im Falle eines Rechtsirrtums oder eines Formfehlers kann der Angeklagte nach alledem noch beim Kassationshof die Rückverweisung vor das Schwurgericht beantragen. Die Jury weiß nicht, wieviel Volks-, Verwaltungs- und Gerichtsautoritäten sie ins Gesicht schlägt, wenn sie einen Angeklagten freispricht. Daher scheint es wenigstens uns in Paris – von den andern Gerichtssprengeln reden wir hier nicht – fast unmöglich, daß ein Unschuldiger sich je auf die Anklagebank vor dem Schwurgericht setzen sollte. Der Strafgefangene ist der Verurteilte. Unser Strafrecht hat Untersuchungsgefängnisse, Gerichtsgefängnisse und Strafgefängnisse geschaffen; es sind das gerichtliche Unterscheidungen, die denen eines Untersuchungsgefangenen, eines Angeklagten und eines Verurteilten entsprechen. Das Haftgefängnis vollstreckt eine leichte Strafe zur Sühne eines geringen Vergehens; aber das Strafgefängnis vollstreckt eine Leibesstrafe, die unter Umständen entehrend ist. Wer also heute das Besserungssystem einführen will, stößt ein wundervolles Strafrecht um, in dem die Strafen in überlegener Weise abgestuft sind; und er wird dahin kommen, daß er kleine Vergehen fast ebenso schwer bestraft wie große Verbrechen. Man wird übrigens in den ›Erzählungen aus der Napoleonischen Sphäre‹ (siehe ›Eine dunkle Begebenheit‹) die merkwürdigen Unterschiede vergleichen können, die zwischen dem Strafkodex vom Brumaire des Jahres IV und dem des Napoleonischen Kodex herrschen, der jenen ersetzte.
In der Mehrzahl der großen Prozesse werden die Beschuldigten wie in diesem sofort zu Untersuchungsgefangenen. Der Richter erläßt auf der Stelle den Haftbefehl. In der Tat werden in der größeren Zahl der Fälle die Beschuldigten entweder flüchtig, oder sie werden auf der Stelle überrascht. Daher waren denn auch, wie man gesehen hat, die Polizei, die hier nur ein Werkzeug der Vollstreckung ist, und die Justiz mit der Geschwindigkeit des Blitzes in Esthers Wohnung erschienen. Selbst wenn keine Motive der Rache vorgelegen hätten, wie Corentin sie der Kriminalpolizei ins Ohr geflüstert hatte, so war doch noch die Anzeige des Barons von Nucingen über einen Diebstahl von siebenhundertfünfzigtausend Franken vorhanden.
In dem Augenblick, als der erste Wagen, der Jakob Collin enthielt, die Arcade Saint-Jean, eine enge und düstere Durchfahrt, erreichte, zwang den Postillion ein Hindernis, unter der Arkade haltzumachen. Die Augen des Untersuchungsgefangenen blitzten wie zwei Karfunkel durch das Gitter, obwohl er sich noch am Abend zuvor als ein Sterbender gestellt hatte, so daß es dem Direktor der Force notwendig erschienen war, einen Arzt zu rufen. Die Augen waren in dieser Minute frei, denn weder der Gendarm noch der Gerichtsdiener wandten sich, um nach ›ihrem Kunden‹ zu sehen; und diese flammenden Augen redeten eine so deutliche Sprache, daß ein geschickter Untersuchungsrichter, wie zum Beispiel Herr Popinot, in dem Kirchenschänder den Sträfling erkannt haben würde. Wirklich achtete Jakob Collin, seit die Salatkutsche das Tor der Force hinter sich hatte, auf alles am Wege. Trotz der schnellen Fahrt überflog er mit gierigem, umfassendem Blick die Häuser vom höchsten Stockwerk an bis zum Erdgeschoß. Er sah alle Vorübergehenden und analysierte
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