Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
gesuchten Wahrheit zu überzeugen, genügt es, die Beobachtungen, die man kürzlich an den Herden spanischer und englischer Schafe gemacht hat, auf die Menschenherden auszudehnen. Auf den Weideebenen, wo das Gras in Fülle vorhanden ist, werden jene Schafe dicht aneinander gedrängt, und auf den Bergen, wo das Gras selten ist, zerstreuen sie sich. Man nehme diese beiden Schafgattungen aus ihren Ländern heraus und bringe sie nach Frankreich oder in die Schweiz: das Bergschaf wird dort einzeln werden, obwohl man es auf eine niedrig gelegene, dichte Wiese bringt, und die Schafe der Ebene werden selbst auf der Alm dicht aneinander gedrängt bleiben. Kaum vermögen mehrere Generationen die einmal erworbenen und ererbten Instinkte zu wandeln. Durch hundert Jahre hindurch verrät sich der Geist der Berge in einem widerspenstigen Lamm, wie noch nach achtzehnhundert Jahren der Verbannung der Orient in Esthers Gesicht und Augen glänzte. Ihr Blick übte keinen furchtbaren Zauber aus, er strahlte eine sanfte Wärme, er rührte, ohne zu erstaunen, und der härteste Wille schmolz unter seiner Flamme. Esther hatte den Haß besiegt, sie hatte die Entarteten von Paris erstaunt, kurz, dieser Blick und die Weichheit ihrer sanften Haut hatten ihr den furchtbaren Beinamen eingetragen, der ihr eben zu ihrem Grabe hatte Maß nehmen lassen. Alles stand bei ihr im Einklang mit diesen Eigenschaften der Fee des glühenden Sandes. Sie hatte eine feste Stirn von stolzem Umriß. Ihre Nase war wie die der Araber fein und dünn; die ovalen Nasenlöcher standen gut und waren an den Rändern aufgeworfen. Ihr roter und frischer Mund war eine Rose, die keine welke Narbe entstellte; die Orgien hatten keine Spur darauf zurückgelassen. Das Kinn, das modelliert war, als hätte ein verliebter Bildhauer seine Kontur poliert, zeigte die Weiße der Milch. Nur eins, dem sie nicht hatte abhelfen können, verriet die allzu tief gesunkene Kurtisane: ihre zerrissenen Nägel, die der Zeit bedurften, um wieder eine elegante Form anzunehmen, so entstellt waren sie von den niedrigsten Arbeiten des Haushalts. Zunächst waren die jungen Pensionärinnen eifersüchtig auf diese Wunder der Schönheit; aber schließlich bewunderten sie sie. Nicht einmal die erste Woche verstrich, ohne daß sie mit der naiven Esther Freundschaft geschlossen hatten, denn sie interessierten sich für das heimliche Unglück eines achtzehnjährigen Mädchens, das weder lesen noch schreiben konnte, dem jedes Wissen, jeder Unterricht neu war und das dem Erzbischof den Ruhm der Bekehrung einer Jüdin zum Katholizismus, dem Kloster aber das Fest seiner Taufe verschaffen sollte. Sie verziehen Esther ihre Schönheit, weil sie ihr durch ihre Erziehung überlegen waren. Esther hatte bald die Manieren, die sanfte Stimme, den Gang und die Haltung dieser so vornehmen Mädchen angenommen; schließlich fand sie ihre erste Natur zurück. Die Verwandlung war eine so vollständige, daß Herrera bei seinem ersten Besuch erstaunt war, er, den nichts in der Welt überraschen zu sollen schien; und die Oberin wünschte ihm Glück zu seinem Mündel. Diese Frauen waren in ihrer ganzen Unterrichtslaufbahn nie einem liebenswürdigeren Naturell, einer christlicheren Sanftmut, einer echteren Bescheidenheit und einer so großen Lernbegier begegnet. Wenn ein Mädchen die Leiden durchgemacht hat, die den armen Zögling überwältigt hatten, und wenn es dabei einen Lohn erwartet, wie der Spanier ihn Esther bot, so kann es kaum anders als jene Wunder der ersten Tage der Kirche verwirklichen, die die Jesuiten in Paraguay erneuerten.
»Sie ist erbaulich,« sagte die Oberin, indem sie ihr die Stirn küßte. Dieses so recht katholische Wort sagt alles.
Während der Erholungsstunden fragte Esther ihre Gefährtinnen taktvoll nach den einfachsten Dingen der großen Welt aus, und sie weckten in ihr etwas wie das erste Staunen eines Kindes über das Leben. Als sie erfuhr, daß sie am Tage ihrer Taufe und ihrer ersten Kommunion weißgekleidet gehen würde, daß sie ein Stirnband aus weißem Satin, weiße Bänder, weiße Schuhe und weiße Handschuhe erhalten und weiße Schleifen im Haar tragen sollte, da brach sie mitten unter ihren erstaunten Gefährtinnen in Tränen aus. Es war das Gegenteil der Szene Jephthas auf dem Berge. Die Kurtisane fürchtete, durchschaut zu werden; sie schob ihre furchtbare Melancholie auf die Freude, die dieses Schauspiel ihr schon im voraus bereitete. Da es sicherlich ebenso weit ist von den Sitten, die
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