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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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sie aufgab, bis zu den Sitten, die sie annahm, wie vom Zustand eines Wilden bis zur Zivilisation, so hatte sie die Anmut, die Naivität und Tiefe, die die wunderbare Heldin der Puritaner von Amerika auszeichnen. Sie trug auch, ohne es zu wissen, eine Liebe im Herzen, die an ihr nagte, eine seltsame Liebe, ein Verlangen, heftiger bei ihr, die alles wußte, als es je bei einer Jungfrau ist, die nichts weiß, wenn auch in beiden Fällen das Verlangen die gleiche Ursache und das gleiche Ziel hat. In den ersten Monaten diente alles: das Neue dieses Einsiedlerlebens, die Überraschungen des Unterrichts, die Arbeiten, die man sie lehrte, die Übungen der Religion, die Glut eines heiligen Entschlusses, die Süße der Neigung, die sie einflößte, und schließlich auch die Übung der Fähigkeiten des erwachten Verstandes – all das diente dazu, ihre Erinnerungen zurückzudrängen, selbst die Anstrengungen des neuen Gedächtnisses, das sie erwarb; denn sie hatte ebensoviel zu verlernen wie zu lernen. Es gibt mehrere Gedächtnisse in uns: Körper und Geist haben jeder das seinige; und das Heimweh ist zum Beispiel eine Krankheit des körperlichen Gedächtnisses. Während des dritten Monats sah sich die Heftigkeit dieser jungfräulichen Seele, die mit vollen Flügeln zum Paradiese strebte, daher denn auch, wenn nicht besiegt, so doch gehemmt von einen, dumpfen Widerstand, dessen Ursache Esther selbst nicht kannte. Gleich den schottischen Schafen wollte sie für sich weiden; sie konnte die Instinkte, die die Ausschweifung in ihr entwickelt hatte, nicht mehr besiegen. Riefen die kotigen Straßen des Paris, dem sie abgeschworen hatte, sie zurück? Hingen die Ketten ihrer durchbrochenen grauenhaften Gewohnheiten mit vergessenen Schlössern an ihr, und fühlte sie sie, wie nach Aussage der Arzte Amputierte noch in den Gliedern Schmerzen spüren, die sie nicht mehr haben? Hatten die Laster und ihre Ausschweifungen sie so bis ins Mark durchdrungen, daß das heilige Wasser den dort verborgenen Dämon noch nicht erreichte? War der Anblick dessen, für den sie so engelhafte Anstrengungen unternahm, notwendig für die, der Gott vergeben sollte, weil sie die menschliche Liebe in die himmlische Liebe mischte? Die eine hatte sie zur anderen geführt. Ging in ihr eine Verschiebung der vitalen Kräfte vor, die notwendige Leiden mit sich brachte? Alles ist Zweifel und Finsternis in einer Lage, die die Wissenschaft zu studieren verschmäht hat, weil sie den Gegenstand zu unmoralisch und zu verfänglich fand; als ständen nicht Arzt und Schriftsteller, Priester und Politiker über jedem Argwohn! Ein Arzt freilich, den der Tod unterbrach, hat den Mut gehabt, unvollständig gebliebene Studien zu beginnen. Vielleicht lag die schwarze Melancholie, der Esther zur Beute fiel und die ihr glückliches Leben verdunkelte, in all diesen Ursachen zugleich begründet; und da sie sie nicht erraten konnte, so litt sie vielleicht, wie die Kranken leiden, die weder die Medizin noch die Chirurgie kennen. Die Sachlage ist wunderlich. Eine reichliche und gesunde Nahrung, die an die Stelle einer scheußlichen, aufreizenden Nahrung trat, konnte Esther nickt erhalten. Ein reines, regelmäßiges Leben, das geteilt war zwischen eigens gemilderten Arbeiten und Erholungspausen und das an die Stelle eines ungeordneten Lebens trat, dessen Genüsse ebenso grauenhaft waren wie seine Leiden, dieses Leben brach den jungen Zögling. Der gesundeste Schlummer, die stillen Nächte, die vernichtende Übermüdungen und grausamste Aufregungen verdrängten, erregten ein Fieber, dessen Symptome dem Finger und dem Auge der Krankenwärterin entgingen. Kurz, das Wohlsein, das Glück, die auf Leiden und Unglück folgten, die Sicherheit nach der Unruhe waren Esther ebenso verhängnisvoll, wie ihr vergangenes Elend es für ihre Gefährtinnen gewesen wäre. Da sie in die Verderbtheit hineingepflanzt worden war, hatte sie sich darin entwickelt. Ihre höllische Heimat übte immer noch ihre Herrschaft aus, den souveränen Anordnungen eines absoluten Willens zum Trotz. Was sie haßte, war für sie das Leben, was sie liebte, tötete sie. Sie hatte einen so glühenden Glauben, daß ihre Frömmigkeit ihre Seele erfreute. Sie liebte das Gebet. Sie hatte ihre Seele dem Licht der wahren Religion geöffnet, die sie ohne Mühen, ohne Zweifel hinnahm. Der Priester, der ihr Berater war, schwebte in Entzücken; aber bei ihr widersetzte der Leib sich der Seele jeden Augenblick. Man fing einst in einem

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