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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Satzungen, die für diese oder jene Gelegenheit aus dem sozialen Arsenal hervorgeholt werden. Kurz, das natürliche Recht kennt Gesetze, die niemals verkündet worden und die doch wirksamer sind und besser bekannt als die, welche die Gesellschaft erfunden hat. Lucien hatte, und zwar zu seinem Schaden, das Gesetz der Solidarität verkannt, das ihn verpflichtete, zu schweigen und Jakob Collin sich verteidigen zu lassen; mehr noch, er hatte ihn belastet! In seinem eigenen Interesse mußte dieser Mensch für ihn immer Carlos Herrera bleiben.
    Herr Camusot genoß seinen Triumph, er hatte zwei Schuldige gefangen: er hatte einen der Lieblinge der Mode mit der Hand der Justiz zu Boden geschlagen und den unauffindbaren Jakob Collin gefunden. Man mußte ihn als einen der geschicktesten Untersuchungsrichter anerkennen. Daher ließ er seinen Gefangenen denn auch in Ruhe; aber er studierte dieses bestürzte Schweigen; er sah, wie die Schweißtropfen auf diesem fassungslosen Gesicht anwuchsen und schließlich niederfielen, untermischt mit zwei Tränenströmen.
    »Weshalb weinen, Herr von Rubempré? Sie sind, wie ich schon sagte, der Erbe des Fräuleins Esther, die weder Seitenerben noch direkte Erben hat, und ihr Nachlaß beläuft sich auf nahezu acht Millionen, wenn man die vermißten siebenhundertfünfzigtausend Franken wiederfindet.«
    Das war für den Schuldigen der letzte Schlag. Zehn Minuten lang Haltung, wie Jakob Collin in seinen Zeilen sagte, und Lucien hatte das Ziel all seiner Wünsche erreicht! Er setzte sich mit Jakob Collin auseinander, trennte sich von ihm, wurde reich und heiratete Fräulein von Grandlieu. Nichts spricht beredter als diese Szene für die Macht, die die Untersuchungsrichter durch die Isolierung und Trennung der Angeschuldigten in Händen haben, und für den Wert einer Mitteilung, wie es die Asiens an Jakob Collin war.
    »Ach, Herr Richter,« erwiderte Lucien mit der Bitterkeit und der Ironie des Mannes, der sich aus seinem Unglück ein Piedestal macht, »wie recht hat man, wenn man in Ihrer Sprache sagt: ein Verhör ›durchmachen‹!... Zwischen der körperlichen Folter von ehedem und der moralischen Folter von heute würde ich für mein Teil niemals schwanken; ich würde die Leiden vorziehen, die früher der Henker vollstreckte... Was wollen Sie noch von mir?« fuhr er voll Stolz fort. »Hier«, sagte der Richter, der heimtückisch dünkelhaft wurde, um den Hochmut des Dichters abzuwehren, »habe nur ich das Recht, Fragen zu stellen.« »Ich hatte das Recht, keine Antwort zugeben,« sagte der arme Lucien murmelnd, denn ihm war der Verstand in seiner ganzen Klarheit zurückgekehrt.
    »Kanzlist, lesen Sie dem Untersuchungsgefangenen sein Verhör vor...« ›Ich werde wieder zum Untersuchungsgefangenen!‹ sagte Lucien bei sich selber.
    Während der Schreiber las, faßte Lucien einen Entschluß, der ihn zwang, Herrn Camusot zu schmeicheln. Als das Murmeln der Stimme Coquarts verstummte, durchlief den Dichter das Zittern dessen, der bei einem Geräusch schläft, an das seine Sinne sich gewöhnt haben, und den die Stille weckt.
    »Sie haben das Protokoll Ihres Verhörs zu unterschreiben,« sagte der Richter. »Und setzen Sie mich in Freiheit?« fragte Lucien, der jetzt seinerseits ironisch wurde. »Noch nicht,« sagte Camusot; »aber morgen nach Ihrer Gegenüberstellung mit Jakob Collin werden Sie ohne Zweifel frei sein. Die Justiz muß jetzt untersuchen, ob Sie an den Verbrechen, die dieses Individuum seit seinem Ausbruch im Jahre 1820 begangen hat, mitschuldig sind oder nicht. Freilich sind Sie nicht mehr im strengen Gewahrsam. Ich werde dem Direktor schreiben, er möge Sie im besten Zimmer der Pistole unterbringen.« »Werde ich dort Schreibmaterialien finden?« »Man wird Ihnen dort geben, was Sie verlangen; ich werde den Befehl durch den Gerichtsdiener übermitteln, der Sie führen wird.«
    Lucien unterschrieb mechanisch das Protokoll und setzte seine Initialen unter die Randbemerkungen, indem er mit der Sanftmut des ergebenen Opfers den Anweisungen Coquarts gehorchte. Eine kleine Einzelheit wird mehr über seinen Zustand sagen, als es die genaueste Schilderung zu tun vermöchte. Die Aussicht auf seine Gegenüberstellung mit Jakob Collin hatte die Schweißtropfen auf seinem Gesicht getrocknet, und seine brennenden Augen glänzten in unerträglichem Glanz. Kurz, er wurde in einem blitzschnellen Augenblick, was Jakob Collin war: ein Mensch aus Bronze. Bei Leuten, deren Charakter dem Luciens gleicht

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