Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
»Schlecht, Herr Graf; lesen Sie und urteilen Sie selber ...«
Er reichte die beiden Protokolle Herrn von Granville hin, der seinen Kneifer nahm und in die Fensternische trat, um zu lesen. Er überflog die Blätter nur. »Sie haben Ihre Pflicht getan,« sagte der Oberstaatsanwalt mit bewegter Stimme. »Es ist entschieden, die Gerichtsbarkeit wird ihren Lauf nehmen ... Sie haben zuviel Geschick bewiesen, als daß man sich je eines solchen Untersuchungsrichters berauben könnte ...«
Hätte Herr von Granville zu Camusot gesagt: ›Sie werden Ihr Leben lang Untersuchungsrichter bleiben!‹ so hätte er nicht deutlicher gesprochen als in jenem Kompliment. Camusot wurde es im Innersten kalt.
»Die Frau Herzogin von Maufrigneuse, der ich viel verdanke, hatte mich gebeten ...« »Ah, die Herzogin von Maufrigneuse, das ist die Freundin der Frau von Sérizy,« sagte Granville, indem er den Richter unterbrach; »freilich ... Sie sind, wie ich sehe, vor keiner Beeinflussung gewichen. Sie haben wohl daran getan, Herr Camusot, Sie werden ein großer Richter werden ...« In diesem Augenblick öffnete der Graf von Bauvan, ohne anzuklopfen, und sagte zum Grafen von Granville: »Mein Lieber, ich bringe dir eine hübsche Frau, die nicht wußte, wohin sie sich wenden sollte; sie war dabei, sich in unserm Labyrinth zu verirren.« Und der Graf Octavius hielt die Gräfin von Sérizy an der Hand, die seit einer Viertelstunde im Palast umherirrte. »Sie hier, gnädige Frau?« rief der Oberstaatsanwalt, indem er ihr seinen eigenen Sessel hinrückte, »und in welchem Augenblick! ... Das ist Herr Camusot, gnädige Frau,« fügte er hinzu, indem er auf den Richter zeigte. »Bauvan,« fuhr er fort, indem er sich an den berühmten Ministerialredner der Restauration wandte, »erwarte mich beim Ersten Präsidenten, er ist noch da. Ich stoße dort zu dir.« Der Graf Octavius von Bauvan begriff, daß er nicht nur überflüssig war, sondern daß auch der Oberstaatsanwalt einen Grund haben wollte, sein Zimmer zu verlassen.
Frau von Sérizy hatte nicht den Fehler begangen, in ihrem prachtvollen Coupé mit dem blauen Wappen, dem betreßten Kutscher und den beiden Dienern in weißseidener Hose und gleichen Strümpfen in den Palast zu kommen. Im Augenblick des Aufbruchs hatte Asien den beiden großen Damen begreiflich gemacht, wie notwendig es sei, daß sie den Fiaker nähmen, in dem sie mit der Herzogin gekommen war; schließlich hatte sie der Geliebten Luciens auch jene Toilette aufgezwungen, die für die Frauen ist, was ehemals der mauerfarbene Mantel für die Männer war. Die Gräfin trug einen braunen Überrock, einen alten schwarzen Schal und einen Samthut, dessen abgerissene Blumen durch einen sehr dichten schwarzen Schleier ersetzt waren.
»Sie haben unsern Brief erhalten? ...« fragte sie Camusot, dessen stumpfsinnige Miene sie für einen Beweis bewundernder Achtung hielt. »Leider zu spät, Frau Gräfin,« erwiderte der Richter, der Takt und Geist nur in seinem Zimmer den Untersuchungsgefangenen gegenüber besaß. »Wieso zu spät? ...« Sie sah Herrn von Granville an und sah die Bestürzung auf seinem Gesicht. »Es kann nicht, es darf nicht zu spät sein,« fügte sie im Ton der Despotin hinzu.
Die Frauen, die hübschen Frauen in der Stellung der Frau von Sérizy sind die verzogenen Kinder der französischen Zivilisation. Wenn die Frauen der andern Länder wüßten, was in Paris eine elegante und reiche Frau mit einem Titel bedeutet, so würden sie alle nur daran denken, herzukommen und diese herrliche Königswürde zu genießen. Die Frauen, die sich einzig den Fesseln der Schicklichkeit fügen, jener Sammlung kleiner Gesetze, die wir in der ›Menschlichen Komödie‹ schon oft genug den weiblichen Kodex genannt haben, lachen über die von den Männern geschaffenen Gesetze. Sie sagen alles, sie weichen vor keinem Fehltritt zurück, vor keiner Dummheit; denn sie haben es alle wundervoll begriffen, daß sie für nichts im Leben verantwortlich sind, außer für ihre weibliche Ehre und für ihre Kinder. Lachend sagen sie die größten Ungeheuerlichkeiten. Bei jeder Gelegenheit wiederholen sie jenes Wort, das in den ersten Tagen ihrer Ehe die hübsche Frau von Bauvan zu ihrem Gatten gesagt hatte, als sie ihn im Palast aufsuchte: ›Sprich schnell das Urteil und komm!‹
»Gnädige Frau,« sagte der Oberstaatsanwalt, »Herr Lucien von Rubempré ist weder eines Diebstahls noch einer Vergiftung schuldig; aber Herr Camusot hat ihn zum Geständnis
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