Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
andere Gefangene ihn in so hohem Grade besaß, völlig fehlte, kam ihn ein Mitleid an ob seines leichten Sieges, und diese Geringschätzung erlaubte ihm, entscheidende Schläge zu führen, weil sie ihm jene furchtbare Freiheit des Geistes gab, die den Schützen auszeichnet, wenn er nur auf Puppen zielt.
»Beruhigen Sie sich, Herr von Rubempré; Sie stehen vor einem Richter, der sich beeilt, das Unrecht wieder gutzumachen, das die Justiz durch eine Untersuchungshaft wider ihren Willen begeht, falls sie grundlos ist. Ich halte Sie für unschuldig, Sie werden sofort in Freiheit gesetzt werden. Hier ist der Beweis für Ihre Unschuld: ein Brief, den Ihre Pförtnerin in Ihrer Abwesenheit angenommen hatte und den sie mir eben brachte. In der Aufregung, die die gerichtliche Haussuchung und die Nachricht von Ihrer Verhaftung zu Fontainebleau zur Folge hatten, hatte diese Frau den Brief vergessen; er ist von Fräulein Esther Gobseck... Lesen Sie!«
Lucien nahm den Brief, las ihn und brach in Tränen aus. Er schluchzte, ohne ein Wort formulieren zu können. Nach einer Viertelstunde, während derer Lucien seine Kraft mit Mühe sammeln mußte, reichte der Kanzlist ihm die Abschrift des Briefes und bat ihn, eine ›Abschrift wörtlich gleich der Urschrift; jederzeit auf Verlangen vorzuzeigen, solange die Untersuchung des Prozesses dauern wird‹ zu unterschreiben, indem er ihm anbot, die beiden Schriftstücke zunächst zu vergleichen; aber Lucien verließ sich natürlich in betreff der Richtigkeit auf Coquarts Wort.
»Mein Herr,« sagte der Richter mit einem Ton voller Gutmütigkeit, »immerhin ist es schwer, Sie in Freiheit zu setzen, ohne daß ich zuvor unsere Formalitäten erfüllt und Ihnen einige Fragen gestellt habe... Ich bitte Sie, gewissermaßen als Zeuge zu antworten. Einen Mann wie Sie, glaube ich, brauche ich nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß der Eid, die ganze Wahrheit zu sagen, hier nicht nur einen Appell an Ihr Gewissen bedeutet, sondern auch eine Notwendigkeit für die Klärung Ihrer Stellung, die für einige Augenblicke zweideutig ist. Die Wahrheit vermag nichts wider Sie, wie sie auch laute; aber die Lüge würde Sie vors Schwurgericht bringen, und ich wäre gezwungen, Sie in die Conciergerie zurückführen zu lassen. Wenn Sie mir meine Fragen offen beantworten, so werden Sie heute abend in Ihrem Hause schlafen, und Sie sind rehabilitiert, wenn die Zeitungen diese Nachricht veröffentlichen: ›Herr von Rubempré, der gestern in Fontainebleau verhaftet wurde, ist auf der Stelle nach einem sehr kurzen Verhör wieder entlassen worden.‹«
Diese Rede machte lebhaften Eindruck auf Lucien, und als der Richter die Bereitschaft seines Gefangenen sah, fügte er hinzu:
»Ich wiederhole es Ihnen, Sie stehen im Verdacht, bei der Vergiftung des Fräuleins Esther beteiligt zu sein: wir haben den Beweis für ihren Selbstmord, und alles ist in Ordnung; aber man hat die Summe von siebenhundertfünfzigtausend Franken entwendet, die zum Nachlaß gehört, und Sie sind der Erbe: da liegt unglücklicherweise ein Verbrechen vor. Dieses Verbrechen liegt vor der Eröffnung des Testaments. Nun hat die Justiz Gründe zu der Annahme, daß eine Persönlichkeit, die Sie liebt, und zwar ebensosehr wie dieses Fräulein Esther Sie liebte, sich dieses Verbrechen zu Ihrem Nutzen erlaubt hat ... Unterbrechen Sie mich nicht,« sagte Camusot, indem er Lucien, der reden wollte, durch eine Geste Schweigen auferlegte, »ich verhöre Sie noch nicht. Ich will Ihnen nur begreiflich machen, wie sehr Ihre Ehre an dieser Frage interessiert ist. Lassen Sie den falschen, den elenden Ehrenpunkt fallen, der Mitschuldige untereinander verbindet, und sagen Sie die ganze Wahrheit.«
Man wird bereits bemerkt haben, wie ungleich die Waffen in diesem Kampf zwischen den Gefangenen und den Untersuchungsrichtern verteilt sind. Sicherlich hat ein geschickt gehandhabtes Leugnen das Absolute seiner Form für sich, und es genügt für die Verteidigung des Verbrechers; aber es ist gewissermaßen ein Rüstzeug, das zermalmt, wenn der Dolch des Verhörs eine Lücke darin findet. Sowie das Leugnen gewissen klärlichen Tatsachen gegenüber versagt, ist der Untersuchungsgefangene dem Richter vollständig ausgeliefert. Man nehme jetzt einen Halbschuldigen an, wie Lucien es war; vor einem ersten Schiffbruch seiner Tugend gerettet, könnte er sich bessern und seinem Lande nützlich werden: der wird in den Fallen der Untersuchung umkommen. Der Richter redigiert ein
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