Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
sie flog. Ein Arzt könnte erklären, woher die Frauen der Gesellschaft, deren Kraft ungeübt ist, in den Krisen des Lebens solche Schwungkraft hernehmen. Die Gräfin stürzte sich mit solcher Geschwindigkeit durch die Arkade auf das Portal, daß der Gendarm, der Posten stand, sie nicht einmal eindringen sah. Sie warf sich wie eine Feder, die von einem wütenden Wind gejagt wird, wider das Gitter und rüttelte mit solcher Raserei an den Eisenstangen, daß sie die eine, die sie gepackt hielt, zerbrach. Sie bohrte sich die beiden Bruchstücke in die Brust, so daß das Blut hervorsprang, und brach zusammen, während sie mit einer Stimme, vor der die Aufseher erstarrten: »Öffnet! öffnet!« schrie.
    Der Schließer eilte herbei. »Öffnen Sie! Mich schickt der Oberstaatsanwalt, um den Toten zu retten! ...«
    Während die Gräfin den Umweg über die Rue de la Barillerie und den Quai de l'Horloge machte, waren Herr von Granville und Herr von Sérizy, da sie die Absicht der Gräfin errieten, durch das Innere des Palastes zur Conciergerie hinabgeeilt; aber trotz ihrer Eile trafen sie erst in dem Augenblick ein, in dem sie am ersten Gitter ohnmächtig zusammenbrach und von den Gendarmen, die aus ihrem Wachtlokal herbeisprangen, aufgehoben wurde. Beim Anblick des Direktors der Conciergerie öffnete man das Portal und trug die Gräfin ln die Kanzlei; sie aber richtete sich auf den Füßen empor und fiel mit gefalteten Händen auf die Knie.
    »Ihn sehen! ... Ihn sehen! ... O meine Herren, ich werde nichts Arges tun! Aber wenn Sie nicht wollen, daß ich hier sterbe, so lassen Sie mich Lucien sehen, lebend oder tot. – Ah, du bist da, mein Freund. Wähle zwischen meinem Tod und ...« Sie brach zusammen. »Du bist gut,« fuhr sie fort, »ich will dich lieben! ...«
    »Wir müssen sie forttragen!« sagte Herr von Bauvan. »Nein, wir wollen in die Zelle gehen, in der Lucien ist,« erwiderte Herr von Granville, da er in den verstörten Blicken des Herrn von Sérizy seine Absichten las. Und er ergriff die Gräfin, hob sie empor und faßte sie unterm einen Arm, während Herr von Bauvan sie unterm andern faßte. »Herr Direktor,« sagte Herr von Sérizy, »Todesschwelgen über all das.« »Seien Sie unbesorgt,« versetzte der Direktor. »Sie haben das rechte Mittel gewählt. Diese Dame ...« »Es ist meine Frau ...« »Ah, Verzeihung, Herr Graf. Nun, sie wird sicherlich ohnmächtig werden, wenn sie den jungen Mann sieht, und während ihrer Ohnmacht kann man sie in einen Wagen tragen.« »Das war mein Gedanke,« sagte der Graf. »Schicken Sie einen Ihrer Beamten zu meinen Leuten in der Cour de Harlay, damit sie am Portal vorfahren; es ist nur mein Wagen da ...«
    »Wir können ihn retten,« sagte die Gräfin, indem sie mit einem Mut und einer Kraft ausschritt, die ihre Hüter überraschten. »Es gibt Mittel, ihn ins Leben zurückzurufen ...« Und sie zog die beiden Richter mit sich fort, indem sie dem Aufseher zurief: »Gehen Sie doch schneller! ... Eine Sekunde entscheidet über das Leben dreier Menschen!«
    Als die Tür zur Zelle offen war und die Gräfin Lucien hängen sah, als hätte man seine Kleider an einen Kleiderhalter gehängt, machte sie zunächst einen Sprung auf ihn zu, als wollte sie ihn umarmen und ergreifen; aber gleich darauf stürzte sie mit dem Gesicht auf den Boden der Zelle, wobei sie Schreie ausstieß, die eine Art Röcheln erstickte. Fünf Minuten darauf wurde sie von dem Wagen des Grafen in sein Hotel entführt; sie lag auf einem Wagensitz ausgestreckt, und vor ihr kniete ihr Gatte. Der Graf von Bauvan war zu einem Arzt geeilt, der der Gräfin die erste Hilfe bringen sollte.
    Der Direktor der Conciergerie untersuchte das äußere Gitter des Portales und sagte zu seinem Kanzlisten: »Man hat nichts gespart! Die Eisenstangen sind geschmiedet, sie sind einer Probe unterworfen worden; man hat schweres Geld dafür bezahlt, und doch war in dieser Stange eine Bruchstelle! ...«
    Der Oberstaatsanwalt sah sich, als er wieder in sein Zimmer trat, gezwungen, seinem Sekretär andere Anweisungen zu geben. Zum Glück war Massol noch nicht da gewesen.
    Wenige Augenblicke nach Herrn von Granvilles Aufbruch – er beeilte sich, zu Herrn von Sérizy zu kommen – suchte Massol seinen Kollegen im Sitzungssaal der Staatsanwaltschaft.
    »Mein Lieber,« sagte der junge Sekretär, »wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so werden Sie, was ich Ihnen diktieren werde, in der morgigen Nummer Ihrer Zeitung bringen; die Überschrift des

Weitere Kostenlose Bücher