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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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möglichst viele Angeklagte unterzubringen; sie haben die Kapitale, die Bogen und die Schäfte dieser prachtvollen Galerie mit Gips, Gittern und Verkittungen verdorben. Unter dem sogenannten Zimmer des heiligen Ludwig steigt in der Tour Bonbec eine Wendeltreppe empor, die zu diesen Zellen führt; diese Entweihung der größten Erinnerungen Frankreichs ist von scheußlicher Wirkung.
    Von der Höhe herab, in der Lucien sich befand, schweifte sein Blick schräg auf diese Galerie und die Einzelheiten der Bauten, die die Tour d'Argent mit der Tour Bonbec verbinden; er sah die spitzen Dächer der beiden Türme. Er stand ganz starr; sein Selbstmord wurde durch seine Bewunderung verzögert. Heute sind die Erscheinungen der Halluzination so vollständig von der Heilkunde anerkannt, daß sich jene Spiegelung unserer Sinne, jene seltsame Fähigkeit unseres Geistes nicht mehr leugnen läßt. Der Mensch befindet sich unter dem Druck einer Empfindung, die einen solchen Grad erreicht, daß sie kraft ihrer Intensität zu einer Wahnvorstellung wird, oft in dem Zustand, in den ihn das Opium, das Haschisch, die salpetrige Säure versetzen. Dann erscheinen Gespenster und Phantome; dann nehmen die Träume körperliche Gestalt an, untergegangene Dinge leben in ihrem früheren Zustand wieder auf; was im Gehirn nur ein Gedanke war, wird ein beseeltes oder lebendes Wesen. Die Wissenschaft glaubt heute, daß das Gehirn sich unter dem Druck der Leidenschaften in ihrem Überschwang mit Blut vollsaugt und daß dieser Blutandrang die beängstigenden Spiele des Traumes im wachen Zustand hervorruft; so sehr wehrt man sich dagegen, das Denken als eine lebendige und zeugende Kraft anzusehen [Fußnote: (siehe›Louis Lambert‹ [im 9. Band dieser Ausgabe])] . Lucien sah den Palast in seiner ganzen ursprünglichen Schönheit. Der Säulengang war schlank, jung und frisch. Der Wohnsitz des heiligen Ludwig stand wieder so da, wie er gewesen war; Lucien bewunderte seine babylonischen Verhältnisse und seine orientalischen Launen. Er nahm diese erhabene Vision als ein poetisches Lebewohl der zivilisierten Schöpfung hin. Während er seine Maßregeln traf, um zu sterben, fragte er sich, wie dieses Wunder in Paris unbekannt existieren konnte. Es waren zwei Luciens vorhanden: ein Dichter Lucien, der sich im Mittelalter erging, unter den Arkaden und den Türmchen des heiligen Ludwig, und ein Lucien, der sich zum Selbstmord rüstete.
    In dem Augenblick, als Herr von Granville seinem jungen Sekretär seine Anweisungen gegeben hatte, stellte sich der Direktor der Conciergerie ein, und der Ausdruck seines Gesichts war derart, daß den Oberstaatsanwalt die Ahnung von einem Unglück überkam.
    »Sind Sie Herrn Camusot begegnet?« fragte er ihn. »Nein, Herr Graf,« erwiderte der Direktor. »Sein Kanzlist Coquart hat mir befohlen, für den Abbé Carlos Herrera den strengen Gewahrsam aufzuheben und Herrn von Rubempré zu entlassen; aber es ist zu spät.« »Mein Gott! was ist geschehen?« »Hier, Herr Graf,« sagte der Direktor, »ist ein Briefpaket für Sie, das Ihnen die Katastrophe erklären wird. Der Aufseher des Gefängnishofes hatte das Geräusch zerbrechender Scheiben gehört, und der Nachbar des Herrn Lucien in der Pistole stieß ein gellendes Geschrei aus, denn er hörte das Todesröcheln des armen jungen Mannes. Der Aufseher kam ganz blaß zurück, ein solches Schauspiel hatte sich seinen Augen dargeboten; er sah den Gefangenen an seiner Krawatte am Fenster erhängt.«
    Obgleich der Direktor mit gedämpfter Stimme sprach, bewies der furchtbare Schrei, den Frau von Sérizy ausstieß, daß unsere Organe unter entscheidenden Verhältnissen von unberechenbarer Feinheit sind. Die Gräfin hörte oder erriet. Aber ehe Herr von Granville sich noch umgewandt hatte, war sie, ohne daß weder Herr von Sérizy noch Herr von Bauvan sich so schnellen Bewegungen widersetzen konnten, wie ein Pfeil zur Tür hinaus und flog in die Händlergalerie, wo sie bis zu der Treppe lief, die in die Rue de la Barillerie hinabführt.
    Ein Advokat legte an der Tür eines jener Läden, die so lange diese Galerie füllten und in denen man Schuhe verkaufte und Amtskleider und Barette verlieh, seinen Überwurf ab. Die Gräfin fragte nach dem Weg zur Conciergerie. »Gehen Sie hinunter und wenden Sie sich nach links; der Eingang liegt auf dem Qual de l'Horloge, erstes Tor.« »Diese Frau ist wahnsinnig!« sagte die Händlerin, »man sollte ihr folgen.«
    Niemand hätte Leontine folgen können;

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