Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
verstehe freilich, weshalb der Oberstaatsanwalt zögert; dieser Bursche hat stets seine Unschuld beteuert, und mir scheint, überzeugende Beweise haben gegen ihn nicht vorgelegen.« »Er ist ein echter Korse,« versetzte Herr Gault, »er hat kein Wort gesagt und allem widerstanden.«
Das letzte Wort des Direktors der Conciergerie an den Chef des Sicherheitsdienstes enthielt die düstere Geschichte der zum Tode Verurteilten. Ein Mann, den die Gerichtsbarkeit aus der Zahl der Lebenden gestrichen hat, gehört der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist souverän; sie hängt von niemandem ab, sie hat nur ihr Gewissen zu befragen. Das Gefängnis gehört der Staatsanwaltschaft, sie ist dort unumschränkter Herr. Die Poesie hat sich dieses sozialen Themas, des zum Tode Verurteilten, das so hervorragend geeignet ist, die Phantasie zu packen, bereits bemächtigt! Die Poesie war erhaben, die Prosa hat keine andern Mittel als die Wirklichkeit; aber die Wirklichkeit ist, so wie sie ist, furchtbar genug, um es mit der Poesie aufnehmen Zu können. Das Leben des zum Tode Verurteilten, der seine Verbrechen nicht gestanden, seine Mitschuldigen nicht verraten hat, ist grauenhaften Qualen unterworfen. Es handelt sich hier nicht um Stiefel, die die Füße brechen, noch auch um Wasser, das in den Magen eingeführt wird, noch auch um ein Recken der Glieder mit Hilfe furchtbarer Maschinen, aber um eine heimtückische und sozusagen negative Folter. Die Staatsanwaltschaft überläßt den Verurteilten völlig sich selber; sie läßt ihn allein im Schweigen und im Dunkel, aber mit einem Gefährten, einem ›Hammel‹, dem er mißtrauen muß.
Die liebenswürdige moderne Philanthropie glaubt die grauenhafte Folter der Absonderung entdeckt zu haben; sie täuscht sich. Seit der Abschaffung der Folter hatte die Staatsanwaltschaft in dem sehr natürlichen Wunsch, das schon allzu zarte Gewissen der Geschwornen zu beruhigen, erraten, welche furchtbaren Waffen die Einsamkeit der Justiz wider alle verleiht, die schuldigen Herzens, sind. Die Einsamkeit ist die Leere; und die moralische Natur hat vor der Leere ein ebenso großes Grauen wie die physische Natur. Die Einsamkeit ist nur für den genialen Menschen bewohnbar, der sie mit seinen Gedanken, den Töchtern der geistigen Welt, anfüllt, oder für den Betrachter der göttlichen Werke, der sie erleuchtet findet vom Licht des Himmels, belebt vom Hauch und der Stimme Gottes. Außer diesen beiden Menschen, die dem Paradies so nahe leben, verhält sich die Einsamkeit zur Folter, wie sich das Geistige zum Körperlichen verhalt. Zwischen der Einsamkeit und der Folter besteht der ganze Unterschied der Nervenkrankheit und der chirurgischen Krankheit. Sie ist das Leiden, multipliziert mit der Unendlichkeit. Der Leib rührt durch das Nervensystem an das Unendliche, wie der Geist durch den Gedanken hineindringt. Daher lassen sich denn auch in den Annalen der pariser Staatsanwaltschaft die Verbrecher zählen, die kein Geständnis ablegen.
Dieser unheimliche Zustand, der in gewissen Fällen, zum Beispiel in der Politik, wo es sich um eine Dynastie oder um einen Staat handelt, ungeheuerliche Proportionen annimmt, wird in der ›Menschlichen Komödie‹ an seiner Stelle einen Platz finden. Hier aber mag die Schilderung des Steinkastens, in dem die pariser Staatsanwaltschaft unter der Restauration den zum Tode Verurteilten unterbrachte, genügen, um eine Vorstellung von dem Grauen der letzten Tage eines Hinzurichtenden zu geben.
Vor der Julirevolution gab es – und es gibt sie übrigens auch heute noch – die ›Kammer des zum Tode Verurteilten‹. Diese Kammer, die an die Kanzlei grenzt, wird von ihr getrennt durch eine dicke Mauer aus lauter Quadern; und auf der andern Seite wird sie flankiert von der sieben oder acht Fuß dicken Mauer, die einen Teil des ungeheuren Vorsaales trägt. Man betritt sie durch die erste Tür in dem langen düstern Gang, in den der Blick hinabtaucht, wenn man in der Mitte des großen gewölbten Portalsaales steht. Diese unheimliche Kammer bezieht ihr Licht durch einen mit furchtbaren Stäben vergitterten Kellerhals, den man kaum bemerkt, wenn man die Conciergerie betritt, denn er ist eingebaut in den schmalen Raum zwischen dem Fenster der Kanzlei neben dem Gitter des Portales und der Wohnung des Kanzlisten der Conciergerie, die der Baumeister wie einen Schrank in den Hintergrund des Einfahrtshofes geklebt hat. Diese Lage erklärt, weshalb man dieses Zimmer, das von vier
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