Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
man seinen Feind, und man hält sich für einen sehr ehrenwerten Menschen und wird auch dafür gehalten. Ach, echte Richter sind sehr unglücklich! Sehen Sie, sie müßten wie ehedem die Priester von aller Gesellschaft abgeschlossen leben. Die Welt müßte sie nur zu bestimmten Stunden ernst, alt und ehrwürdig aus ihren Zellen hervortreten sehen; und dann müßten sie Recht sprechen wie in den alten Gesellschaften die Hohenpriester, die die Rechtsgewalt und die Priestergewalt in sich vereinigten! Man müßte uns nur auf unsern Sitzen sehen ... Heute sieht man uns, wie wir gleich anderen leiden und uns amüsieren! Man sieht uns in den Salons, in der Familie, als Bürger, als Leute Mitleidenschaften, und es kann sein, daß wir grotesk wirken statt furchtbar ...«
Dieser qualvolle Schrei, der durch Pausen und Ausrufe unterbrochen und von Gesten begleitet wurde, die ihm eine auf dem Papier schwer wiederzugebende Beredsamkeit verliehen, jagte Camusot einen Schauder durch den Körper. »Auch ich, Herr Graf,« sagte er, »habe gestern die Lehrjahre in den Leiden unseres Standes angetreten! ... Ich wäre fast gestorben an dem Tode dieses jungen Mannes; er hatte meine Parteilichkeit nicht verstanden, der Unglückliche hat sich selber aufgespießt ...« »Ach, Sie durften ihn nicht verhören!« rief Herr von Granville; »es ist so leicht, durch eine Unterlassung Dienste zu erweisen ...« »Und das Gesetz?« fragte Camusot; »er war seit zwei Tagen verhaftet! ...« »Das Unglück ist geschehen,« erwiderte der Oberstaatsanwalt. »Ich habe nach Kräften wieder gutgemacht, was nicht wieder gutzumachen ist. Mein Wagen und meine Leute begleiten den Leichenzug dieses armen schwachen Dichters. Sérizy hat es gemacht wie ich; ja noch mehr, er nimmt das Amt an, das dieser unglückliche junge Mann ihm übertragen hat; er wird sein Testamentsvollstrecker sein. Er hat für dieses Versprechen von seiner Frau einen Blick erhalten, in dem der Verstand aufblitzte. Und der Graf Octavius schließlich wohnt dem Begräbnis persönlich bei.« »Nun, Herr Graf,« sagte Camusot, »vollenden wir unser Werk. Es bleibt noch ein recht gefährlicher Untersuchungsgefangener übrig. Sie wissen so gut wie ich, daß es Jakob Collin ist. Der Elende wird als das erkannt werden, was er ist...« »Dann sind wir verloren!« rief Herr von Granville. »Er ist in diesem Augenblick bei Ihrem zum Tode Verurteilten, der ehemals im Bagno für ihn das war, was Lucien ihm in Paris gewesen ist...sein Schützling! Bibi-Lupin hat sich als Gendarm verkleidet, um der Unterredung beizuwohnen.« »Um was kümmert sich die Kriminalpolizei?« sagte der Oberstaatsanwalt; »sie darf nur auf meinen Befehl hin arbeiten.« »Die ganze Conciergerie wird erfahren, daß wir Jakob Collin haben ... Nun, ich komme, um Ihnen zu sagen, daß dieser große und verwegene Verbrecher die gefährlichsten Briefe der Frau von Sérizy, der Herzogin von Maufrigneuse und des Fräuleins Klotilde von Grandlieu besitzen muß.« »Sind Sie dessen sicher?« fragte Herr von Granville, indem er auf seinem Gesicht eine schmerzliche Überraschung sehen ließ. »Urteilen Sie selbst, Herr Graf, ob ich recht habe, wenn ich dieses Unglück befürchte. Als ich das Bündel Briefe entfaltete, das man bei diesem unglücklichen jungen Mann beschlagnahmt hat, warf Jakob Collin einen scharfen Blick darauf, und ihm entschlüpfte ein befriedigtes Lächeln, über dessen Bedeutung sich ein Untersuchungsrichter nicht täuschen kann. Ein so tiefgründiger Halunke wie Jakob Collin hütet sich wohl, solche Waffen fahren zu lassen. Was sagen Sie dazu, wenn diese Briefe in den Händen eines Verteidigers sind, den der Schlingel sich natürlich unter den Feinden der Regierung und der Aristokratie aussuchen wird! Meine Frau, für die die Herzogin von Maufrigneuse eine Schwäche hat, ist zu ihr gegangen, um sie zu warnen, und in diesem Augenblick werden sie bei den Grandlieus sein, um zu beraten...« »Der Prozeß dieses Menschen ist ganz unmöglich!« rief der Oberstaatsanwalt, indem er aufstand und mit großen Schritten durch sein Zimmer ging. »Er wird die Briefe in Sicherheit gebracht haben ...« »Ich weiß wo« sagte Camusot.
Durch dieses einzige Wort tilgte der Untersuchungsrichter die ganze Voreingenommenheit des Oberstaatsanwalts gegen ihn. »Lassen Sie sehen! ...« sagte Herr von Granville, indem er sich wieder setzte. »Als ich von Hause in den Palast kam, habe ich mir diese trostlose Angelegenheit gründlich überlegt.
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