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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Wir drei, Herr von Sérizy, Graf Octavius von Bauvan und ich, sind seit gestern abend sechs Uhr bis heute früh sechs Uhr immer abwechselnd vom Salon an das Bett der Frau von Sérizy gegangen; und jedesmal fürchteten wir, sie tot oder für immer wahnsinnig vorzufinden! Desplein, Bianchon und Sinard haben mit zwei Krankenwärterinnen das Schlafzimmer nicht verlassen. Der Graf betet seine Frau an. Stellen Sie sich vor, was für eine Nacht ich zwischen einer vor Liebe wahnsinnigen Frau und einem vor Verzweiflung wahnsinnigen Freund verbracht habe. Ein Staatsmann verzweifelt nicht wie ein Dummkopf. Sérizy war ruhig wie auf seinem Stuhl im Ministerrat, und er wand sich in seinem Sessel, um uns ein unbesorgtes Gesicht zu zeigen, wahrend der Schweiß dieses von so viel Arbeit gebeugte Haupt krönte. Ich habe, vom Schlummer übermannt, von fünf bis halb acht geschlafen, und um halb neun mußte ich hier sein, um Befehl zu einer Hinrichtung zu geben. Glauben Sie mir, Herr Camusot, wenn ein Mann die ganze Nacht hindurch in den Abgründen des Schmerzes geschwebt hat, wenn er Gottes Hand schwer auf den Dingen der Menschen lasten und edle Herzen gewaltsam schlagen fühlte, so wird es ihm nicht leicht, sich hier vor seinen Schreibtisch zu setzen und kühl zu sagen: ›Lassen Sie um vier Uhr einen Kopf fallen! Vernichten Sie ein Geschöpf Gottes, das voll Leben, Kraft und Gesundheit ist!‹ Und doch ist das meine Pflicht! Vom Schmerz übermannt, soll ich Befehl erteilen, daß man das Schafott errichte ... Der Verurteilte weiß nicht, daß der Richter Qualen erduldet, die den seinen gleich sind. In diesem Augenblick sind wir, ich, die Gesellschaft, die sich rächt, und er, das zu sühnende Verbrechen, durch ein Blatt Papier verbunden; wir sind dieselbe Pflicht, von zwei Seiten gesehen, zwei Existenzen, die auf einen Augenblick durch das Henkerbeil des Gesetzes zusammengeschweißt sind. Wer beklagt diese tiefen Schmerzen des Richters? Wer tröstet ihn? ... Es ist unser Ruhm, daß wir sie in der Tiefe unseres Herzens vergraben. Der Priester mit seinem gottgeweihten Leben und der Soldat mit seinen tausend Toden für das Land scheinen mir glücklicher als der Richter mit seinen Zweifeln, seinen Befürchtungen und seiner furchtbaren Verantwortlichkeit. Sie wissen, wen man hinrichten soll?« fuhr der Oberstaatsanwalt fort: »Einen jungen Mann von siebenundzwanzig Jahren, der schön ist wie unser Toter von gestern, blond wie er, dessen Kopf uns wider Erwarten zum Opfer gefallen ist, denn gegen ihn lagen nur die Beweise der Hehlerei vor. Dieser Bursche ist verurteilt worden, und er hat nichts gestanden! Seit siebzig Tagen wehrt er sich gegen alle Beweise, indem er seine Unschuld beteuert. Seit zwei Monaten trage ich zwei Köpfe auf den Schultern! Oh, ich würde sein Geständnis mit einem Jahr meines Lebens bezahlen, denn man muß die Geschwornen beruhigen! ... Urteilen Sie selbst, was für ein Hieb wider die Rechtsprechung es wäre, wenn man eines Tages entdeckte, daß das Verbrechen, um dessentwillen er sterben soll, von einem andern begangen wurde! In Paris nimmt alles eine furchtbare Bedeutung an, die kleinsten juristischen Zwischenfälle werden zu politischen Ereignissen. Die Jury, diese Einrichtung, die die Gesetzgeber der Revolution für so stark hielten, ist ein Element des sozialen Verderbens; denn sie erfüllt ihre Misston nicht, sie schützt die Gesellschaft nicht genügend. Die Jury spielt mit ihren Funktionen. Die Geschwornen teilen sich in zwei Lager, von denen das eine die Todesstrafe nicht mehr will; es ergibt sich daraus ein völliger Umsturz der Gleichheit vor dem Gesetz. Ein so furchtbares Verbrechen wie der Vatermord erlangt in einem Departement einen Freispruch, [Fußnote: Es gibt in den Bagnos dreiundzwanzig Vatermörder, denen man die Wohltat der ›mildernden Umstände‹ hat zuteil werden lassen. Anmerkung Balzacs.] während in einem anderen ein sozusagen gewöhnliches Verbrechen mit dem Tode bestraft wird. Was sollte daraus werden, wenn man in unserm Sprengel, in Paris, einen Unschuldigen hinrichtete!« »Es ist ein entsprungener Sträfling,« bemerkte Herr Camusot schüchtern. »Er würde in den Händen der Opposition und der Presse zu einem Osterlamm werden!« rief Herr von Granville, »und die Opposition hätte leichtes Spiel, wenn sie ihn reinwaschen wollte; denn es handelt sich um einen Korsen, der ein Fanatiker der Ideen seines Landes ist; seine Morde sind die Wirkungen der Vendetta! Auf dieser Insel tötet

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