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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ließ ihn alles berichten ... Er vertraute mir alles an, bis hinab zu seinen geringsten Empfindungen ... Ach, nie hat eine gute Mutter ihren einzigen Sohn so geliebt, wie ich diesen Engel liebte. Wenn Sie wüßten! Das Gute wuchs in diesem Herzen auf, wie die Blumen sich auf den Wiesen erheben. Er war schwach, das war sein einziger Fehler, schwach wie die Saite der Leier, die so stark ist, wenn sie sich spannt ... Das sind die schönsten Naturen, ihre Schwäche ist ganz einfach Zärtlichkeit, Bewunderung, die Fähigkeit, in der Sonne der Kunst, der Liebe, des Schönen, das Gott unter tausend Formen für den Menschen erschuf, emporzublühen! ... Kurz, Lucien war eine mißratene Frau. Ach, was habe ich dem blöden Tier, das eben hinausgegangen ist, nicht alles gesagt! ... Ach, Herr Graf, ich habe in meinem Gesichtskreis als Untersuchungsgefangener vor dem Richter getan, was Gott getan hätte, um seinen Sohn zu retten, wenn er ihn vor Pilatus begleitet hätte! ...«
    Ein Tränenstrom brach aus den klaren und gelben Augen des Sträflings hervor, die noch eben wie die eines durch sechs Monate des Schnees in der Ukraine ausgehungerten Wolfes geflackert hatten.
    »Dieser Tölpel wollte auf nichts hören, und er hat das Kind zugrunde gerichtet! ... Herr Graf, ich habe die Leiche des Kleinen mit meinen Tränen gewaschen, und zu dem gefleht, den ich nicht kenne und der über uns allen ist! Ich, der ich nicht an Gott glaube! – Wenn ich kein Materialist wäre, wäre ich nicht ich! – Ich habe Ihnen da in einem Wort alles gesagt. Sie wissen nicht, kein Mensch weiß, was der Schmerz ist; ich allein, ich kenne ihn. Das Feuer des Schmerzes hat meine Tränen so sehr vertrocknet, daß ich heute nacht nicht habe weinen können. Ich weine jetzt, weil ich fühle, daß Sie mich verstehen. Ich habe Sie da eben als ›Gerechtigkeit‹ gesehen ... Ach, Herr Graf, Gott – ich fange an, an ihn zu glauben – bewahre Sie davor, zu werden, was ich bin ... Dieser verfluchte Richter hat mir meine Seele genommen. Herr Graf, Herr Graf! Man begräbt in diesem Augenblick mein Leben, meine Schönheit, meine Tugend, mein Gewissen, meine ganze Kraft! Stellen Sie sich einen Hund vor, dem ein Chemiker sein Blut entzieht ... Dann haben Sie mich, ich bin dieser Hund ... Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen: ›Ich bin Jakob Collin, ich ergebe mich!‹... Ich hatte mich dazu heute morgen entschlossen, als man kam, mir diesen Leichnam zu entreißen, den ich wie ein Wahnsinniger, wie eine Mutter küßte, wie die Jungfrau Jesus im Grab geküßt haben muß ... Ich wollte mich bedingungslos der Gerichtsbarkeit zur Verfügung halten ... Jetzt muß ich Bedingungen stellen, Sie werden sehen, weshalb ...« »Sprechen Sie zu Herrn von Granville oder zum Oberstaatsanwalt?« fragte der Richter.
    Diese beiden Männer, das Verbrechen und die Gerechtigkeit, sahen sich an. Der Sträfling hatte den Staatsanwalt bis ins Innerste gerührt, und diesen faßte ein göttliches Mitleid mit dem Unglücklichen; er erriet sein Leben und seine Empfindungen. Schließlich glaubte der Staatsanwalt – ein Staatsanwalt bleibt immer Staatsanwalt –, dem das Leben Jakob Collins seit seinem Ausbruch unbekannt war, er könne sich zum Meister dieses Verbrechers machen, der schließlich nur einer Fälschung schuldig war. Und er wollte es dieser Natur gegenüber, die wie die Bronze aus verschiedenen Metallen zusammengesetzt war, aus Gutem und Bösem, mit Großmut versuchen. Und Herr von Granville, der dreiundfünfzig Jahre alt geworden war, ohne daß er je hatte Liebe einflößen können, bewunderte wie alle Männer, die nie geliebt worden sind, die zarten Naturen. Vielleicht war diese Verzweiflung, das Los vieler Männer, denen die Frauen nur ihre Achtung oder Freundschaft gewähren, das geheime Band in der tiefen Vertraulichkeit der Herren von Bauvan, von Granville und von Sérizy; denn das gleiche Unglück stimmt genau wie ein gegenseitiges Glück die Seelen auf die gleiche Oktave.
    »Sie haben eine Zukunft!« sagte der Oberstaatsanwalt, indem er einen Inquisitorblick auf den zu Boden geworfenen Verbrecher fallen ließ. Der machte eine Geste, durch die er die tiefste Gleichgültigkeit gegen sich selber verriet. »Lucien hat ein Testament hinterlassen, durch das er Ihnen dreihunderttausend Franken vermacht ...« »Der Arme! Der arme Kleine, der arme Kleine!« rief Jakob Collin; »immer zu ehrlich! Ich verkörperte alle schlimmen Empfindungen, er das Gute, das Edle, das

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