Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
konnte, hatte er aus ihm sein Werkzeug gemacht. Kein Opfer fiel übrigens diesem seltsamen Menschen schwer, sobald es sich um sein zweites Selbst handelte. Trotz all seiner Kraft war er den Launen seines Geschöpfes gegenüber so schwach, daß er ihm schließlich seine Geheimnisse anvertraut hatte. Vielleicht war diese rein moralische Mitschuld nur ein Band mehr zwischen ihnen! Seit dem Tage, an dem Esther entführt worden war, wußte Lucien, auf welcher furchtbaren Grundlage sein Glück ruhte.
Die Soutane des spanischen Priesters verbarg Jakob Collin, eine der Berühmtheiten des Bagno, die vor zehn Jahren unter dem bürgerlichen Namen Vautrin im Hause Vauquer wohnte, in dem auch Rastignac und Bianchon in Pension waren. Jakob Collin, genannt ›Betrüg-den-Tod‹, der aus Rochefort fast unmittelbar nach seiner Wiedergefangennahme ausgebrochen war, machte sich das Beispiel des berühmten Grafen von Sankt Helena zunutze, doch vermied er alles, was an der verwegenen Aktion Coignards fehlerhaft gewesen war. Sich selbst an die Stelle eines ehrlichen Mannes setzen und dabei das Leben eines Sträflings fortführen, das ist eine Aufgabe, deren beide Ziele zu widerspruchsvoll sind, um nicht eine verhängnisvolle Entwicklung zu nehmen, vor allem in Paris; denn wenn ein Verurteilter sich in eine Familie verpflanzt, so verzehnfacht er die Gefahren dieser Unterschiebung. Muß man sich nicht, um vor jeder Nachforschung sicher zu sein, eine Stellung hoch über den gewöhnlichen Interessen des Lebens suchen? Ein Mann der Gesellschaft ist Zufällen ausgesetzt, die selten auf den Leuten lasten, die keine Fühlung mit der Gesellschaft besitzen. Deshalb ist die Soutane die sicherste Verkleidung, wenn man sie durch ein exemplarisches, einsames und tatenloses Leben ergänzen kann. ›Ich werde also Priester werden,‹ sagte sich dieser bürgerlich Tote, der durchaus unter einer sozialen Gestalt wiederaufleben wollte, um Leidenschaften zu befriedigen, die ebenso unheimlich waren wie er.
Der Bürgerkrieg, den die Verfassung von 1812 in Spanien entfachte, wohin dieser Mann der Tatkraft sich begeben hatte, lieferte ihm die Gelegenheit, den wirklichen Carlos Herrera in einem Hinterhalt zu töten. Dieser Priester, der Bastard eines großen Herrn, seit langem von seinem Vater im Stich gelassen, war von König Ferdinand VII., dem ein Bischof ihn empfohlen hatte, mit einer politischen Mission in Frankreich betraut worden. Der Bischof, der einzige Mensch, der sich für Carlos Herrera interessierte, starb, während dieser verlorene Posten die Reise von Cadiz nach Madrid und von Madrid nach Frankreich machte. Glücklich über die so lange ersehnte Begegnung mit dieser Individualität, die obendrein ein Amt bekleidete, wie er es wollte, brachte Jakob Collin sich auf dem Rücken Wunden bei, um die verhängnisvollen Brandmale auszulöschen; und sein Gesicht verwandelte er mit Hilfe chemischer Reagenzien. Indem er sich so vor dem Leichnam des Priesters entstellte, ehe er ihn vernichtete, konnte er sich einige Ähnlichkeit mit seinem Doppelgänger geben. Um diese Verwandlung, die fast ebenso wunderbar war wie jene in dem arabischen Märchen, wo der Derwisch die Macht erlangt hat, mit Hilfe magischer Worte in einen jungen Leichnam einzudringen, vollkommen zu machen, lernte der Sträfling, der Spanisch sprach, genau so viel Lateinisch, wie ein andalusischer Priester wissen mußte. Als Bankier der drei Bagnos war Collin reich, da man alle Depositen seiner bekannten Ehrlichkeit anvertraut hatte, die übrigens auch erzwungen war: denn unter solchen Partnern wird ein Irrtum mit Dolchstichen bezahlt. Mit diesen Geldern vereinigte er die Summe, die der Bischof Carlos Herrera gegeben hatte. Ehe er Spanien verließ, konnte er sich in Barcelona des Schatzes einer frommen Frau bemächtigen, der er die Absolution erteilte, indem er ihr versprach, die Summen zurückzuerstatten, die sie mit Hilfe eines von ihr begangenen Mordes gestohlen hatte und aus denen das Vermögen seines Beichtkindes stammte. So war Jakob Collin Priester geworden und mit einer geheimen Mission betraut, die ihm die einflußreichsten Empfehlungen in Paris eintragen mußte; er war entschlossen, nichts zu tun, was den Charakter, den er sich umgehängt hatte, kompromittieren konnte, und überließ sich also den Zufällen seines neuen Daseins, als er auf der Straße von Angoulême nach Paris Lucien traf. Dieser Junge schien dem falschen Abbé ein wundervolles Werkzeug der Macht zu sein; er rettete
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