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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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hatte sich hinter uns aus einem Baum erhoben und schwebte über den See. Er hatte breite Schwingen, deren Federn an den Enden wie die Finger einer Hand ausgestreckt waren, und einen strahlend weißen Kopf. Ein Seeadler! Ich hatte noch nie ein solches Tier in freier Wildbahn gesehen. Mir stockte der Atem angesichts seiner majestätischen Schönheit, und ich begriff, warum es das Staatswappen schmückte.
    |295| Der Adler schwebte etwa zehn Meter über dem Wasser dahin, den Kopf mit dem gelben Schnabel auf den See gerichtet. Dann legte er plötzlich die Flügel an und schoss wie ein Pfeil herab. Dicht über der Wasseroberfläche breitete er die Flügel aus und begann, heftig zu flattern, um seinen Sturz abzubremsen. Wasser spritzte auf, als er die Oberfläche berührte, und für einen Moment hatte ich das Gefühl, er müsse eintauchen und untergehen. Doch das Tier löste sich wieder von der aufgewühlten Wasseroberfläche. In seinen Fängen glitzerte ein silberner Fisch.
    »Hast du das gesehen!«, rief ich begeistert und ärgerte mich, dass ich keine Kamera dabeihatte. Im nächsten Moment hörte ich über mir ein vielstimmiges wütendes Krächzen und das Flattern zahlloser Flügel. Ein Schwarm Krähen erhob sich und flog hinaus über den See, genau auf den Adler zu, der mit seiner Beute zurückkehrte.
    Der Raubvogel drehte ab, als er die Krähen auf sich zukommen sah. Mit heftigen Flügelschlägen versuchte er, an Höhe zu gewinnen, doch das Gewicht seiner Beute schien ihn zu behindern, und er war nicht schnell genug. Die wesentlich kleineren Krähen umschwärmten ihn, und für einen Moment sah ich nur einen Tumult aus schwarzen Federn. Dann fiel der Fisch herab in den See. Eine der Krähen versuchte, ihn aufzufangen, doch sie war nicht kräftig genug, um ihn zu halten.
    In der Luft tobte ein heftiger Kampf. Ich konnte kaum glauben, dass die Krähen tatsächlich einen Adler attackierten, aber es geschah vor meinen Augen. Ein schwarzer Vogel stürzte ab, verzweifelt mit seinen gebrochenen Flügeln flatternd, und klatschte ins Wasser, dann noch einer. Doch immer noch umringten die Krähen den Adler in einer so dichten Wolke, dass ich kaum noch etwas von dem Raubvogel sah.
    |296| »Haut ab, ihr Mistviecher!«, brüllte ich, außer mir vor Wut. »Lasst ihn in Ruhe, verdammt noch mal!«
    Als hätten sie meine Worte gehört, stoben die Vögel auseinander. Mindestens zwei weitere Krähen konnten nicht mehr richtig fliegen und sackten in kreisförmigen Bahnen auf die Seeoberfläche herab. Ich jubelte, als sich der Adler endlich aus der Wolke seiner Angreifer löste. Doch das Tier schien ebenfalls verletzt zu sein. Die Bewegungen seiner Flügel wirkten nicht mehr majestätisch, sondern verkrampft. Er bekam Schlagseite, und obwohl er mit aller Kraft kämpfte, verlor er immer mehr an Höhe. Er versuchte, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, fort von den schrecklichen schwarzen Angreifern, doch es war viel zu weit.
    Tränen traten in meine Augen, als ich mit ansehen musste, wie das majestätische Tier mitten im See niederging. Immer wieder schlug der Adler mit den Flügeln, doch er konnte sich nicht mehr von der Wasseroberfläche lösen. Irgendwann würde er ertrinken, das war offensichtlich.
    Einen Moment standen wir sprachlos da und starrten auf das hilflose Tier.
    »Komm, lass uns zurückgehen«, sagte Emily.
    »Aber wir müssen doch etwas tun!«, rief ich.
    »Krähen sehen Seeadler nun mal als Feinde an und verteidigen ihr Revier gegen sie«, sagte Emily. »Der Adler hat Pech gehabt. So ist eben das Gesetz der Natur.«
    Ich hatte schon davon gehört, dass Krähen gelegentlich auch viel größere Raubvögel angriffen, um sie aus ihrem Revier zu vertreiben. Doch das Verhalten der Vögel erschien mir unnatürlich, geradezu boshaft.
    Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Die Begegnungen mit den schwarzen Vögeln in Erics Welt hatten in mir eine tiefe, irrationale Abneigung gegen Krähen ausgelöst. |297| Eigentlich hätte ich doch den Mut der Vögel bewundern müssen, die sich einem viel mächtigeren Feind entgegenstellten und ihn ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben, nur zum Wohle ihrer Jungen, angriffen.
    Gerade als ich mich von dem bedauernswerten Adler abwenden wollte, glaubte ich, am anderen Seeufer, mehrere hundert Meter entfernt, eine Gestalt zu erkennen. Sie stand im Schatten eines Baumes und schien zu uns herüberzusehen: eine Frau in Schwarz mit einem Schleier über dem Kopf.
    Ich erstarrte.
    »Was hast du?«,

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