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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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fragte Emily.
    »Da hinten«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf die Stelle. »Am anderen Ufer.«
    »Was ist denn da? Ich sehe nichts.«
    »Da, im Schatten dieses großen Baums, direkt am Wasser. Da steht doch …« Während ich sprach, erkannte ich, dass ich mich geirrt hatte. Das, was ich für eine schwarzgekleidete Gestalt gehalten hatte, war nur ein abgestorbener Baumstumpf.
    »Entschuldige, ich habe mich getäuscht. Ich bin wohl etwas überreizt.«
    »Lass uns zurückgehen«, schlug Emily vor, die offenbar genau wie ich die Lust an unserem Spaziergang verloren hatte. In düsterer Stimmung folgte ich ihr den Pfad hinauf, zurück zur Hütte.
    Den Hang hinaufzuklettern war anstrengender, als ich erwartet hatte. Ich war bald außer Atem und bat Emily um eine kurze Pause. Offenbar hatten die Berührungen mit Erics Seele nicht nur meinen Geist, sondern auch meinen Körper ausgelaugt.
    Wir hielten an, und ich lehnte mich an einen Baumstamm, um wieder zu Atem zu kommen. In diesem Moment |298| hörte ich, wie weiter oben ein Motor angelassen wurde. Kurz darauf entfernte sich ein Fahrzeug.
    Ich erschrak. »Gibt es hier noch eine weitere Hütte in der Nähe?«, fragte ich.
    Emily schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin nicht sicher, ich war schon eine Weile nicht mehr hier. Aber ich glaube nicht.« Sie war blass geworden, und ihre Augen waren geweitet, so als ahne sie, dass etwas Schreckliches passiert war.
    Mein Herz krampfte sich zusammen. »Komm!«, rief ich und rannte den Hang hinauf, so schnell meine erschöpften Beine mich trugen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass George mit einem anderen Wagen gekommen war, um uns noch ein paar Vorräte zu bringen.
    Doch als wir die Hütte erreichten, zerstob auch die letzte Illusion. Emilys Wagen fehlte. Ich wusste, was geschehen war, noch bevor wir die Tür zu der kleinen Jagdhütte öffneten.
    Wie ich befürchtet hatte, war sie leer.

|299| 32.
    Auf dem Bett, genau dort, wo Eric gelegen hatte, fanden wir nur einen kleinen Zettel mit ein paar Zeilen in Marias ordentlicher Handschrift:
     
    »Liebe Tante Emily, liebe Anna,
    ich weiß, dass Ihr mir nicht verzeihen werdet, was ich tue. Doch ich muss es tun – für Eric. Ich habe mich entschieden, Krankenpflegerin zu werden, weil ich Menschen helfen will. Ich kann es mit meinem Gewissen nicht länger vereinbaren, tatenlos mit anzusehen, wie ein Mensch vor meinen Augen stirbt.
    Maria«
     
    Ich starrte den Zettel an. Meine Hand zitterte so sehr, dass ich den Text kaum lesen konnte. »Dieses … dieses elende besserwisserische Miststück!«, schrie ich, außer mir vor Wut. »Wenn Eric stirbt, dann … dann bringe ich sie um!«
    »Beruhige dich«, sagte Emily.
    »Beruhigen? Ist dir klar, was sie getan hat? Sie hat meinen Sohn entführt! Und ich soll mich beruhigen?« Ich stürmte aus der Hütte, aber natürlich war Maria längst außer Sicht. Nachdem ich das Motorengeräusch gehört hatte, hatten wir sicher noch fünf Minuten gebraucht, bis wir die Hütte erreicht hatten. Weit und breit gab es keinen Wagen, mit dem wir die Verfolgung hätten aufnehmen können. Sie war uneinholbar fort.
    |300| Ich brach auf dem Schotterweg zusammen und weinte hemmungslos.
    Emily kniete sich zu mir. Ich ließ mich von ihr in die Hütte führen, wo ich mich auf das Bett setzte. »Eric!«, schluchzte ich die ganze Zeit. »Mein armer Eric!«
    Irgendwann versiegten meine Tränen. Mein Kopf fühlte sich an wie eine ausgehöhlte Kokosnuss. Es gab keine Hoffnung mehr. Eric würde auf der Ebene der Tore auf mich warten, bis er irgendwann starb. Ich würde ihn nie wiedersehen. Maria hatte mein Lebensglück zerstört.
    Ich dachte an den Adler, der draußen im See vermutlich immer noch mit letzter Kraft um sein Leben kämpfte. Eric war wie dieses prachtvolle Tier und Maria der Schwarm Krähen, der ihn zu Fall gebracht hatte. Der Gedanke durchzuckte mich, dass ich irgendwie meinen Sohn retten konnte, wenn es mir gelang, den Adler zu bergen, bevor er ertrank. Wenn ich hinunter zum See lief und hinausschwamm … Aber das war natürlich lächerlich. Vermutlich würde ich zusammen mit dem Adler ertrinken.
    Und wenn schon. Ohne Eric hatte mein Leben keinen Sinn mehr. Es gab nichts, woran ich mich noch festhalten konnte. Ich hatte das Gefühl, in jener unendlichen Schwärze zu versinken, die mich umgeben hatte, bevor ich auf die Ebene der Tore gelangt war. Beinahe meinte ich, Hades’ gehässiges Lachen zu hören.
    Die Hoffnung durchzuckte mich,

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