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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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schon wieder zu verlieren!«
    Emily stand auf und streckte sich. »Lass uns wenigstens einen kleinen Spaziergang machen. Nur ein bisschen frische Luft schnappen. Du hast ihm doch gesagt, dass er an dem Tor auf dich warten soll. Er wird immer noch da sein, wenn wir zurückkehren.«
    Ich sah aus dem Fenster. Es schien früher Nachmittag zu sein. Warmes Sonnenlicht flirrte durch das dichte Blätterdach. Die Aussicht auf einen Spaziergang war verlockend, doch ich machte mir Sorgen. Ich dachte an das Raubtier, das aus einer der Türen entwischt war und noch irgendwo auf der Ebene der Tore herumirrte. »Jede Stunde in unserer Welt entspricht einem Tag oder mehr in seiner!«, entgegnete ich. »Wer weiß, was alles passiert, während wir hier diskutieren! Die Ebene der Tore ist gefährlich!«
    »Solange Eric nicht auf die Idee kommt, wahllos Türen zu öffnen, wird ihm nichts geschehen«, erwiderte Emily in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zu dulden schien.
    Ich begriff, dass ich ihre Geduld und Hilfsbereitschaft überstrapazierte. »Also schön.«
    »Du wirst sehen, es wird dir guttun. Es ist sehr schön hier draußen.« Emily wandte sich an ihre Nichte. »Kommst du mit, Maria?«
    »Nein, danke. Geht ihr beide ruhig. Ich versorge inzwischen Eric.«
    »Soll ich dir helfen?«, fragte ich.
    Maria tat, als habe sie mich nicht gehört.
    Ich ging zu ihr. »Entschuldige, Maria. Ich … ich verstehe deine Sorge. Aber wenn du gesehen hättest, was deine Tante und ich gesehen haben, würdest du uns verstehen.«
    Sie blickte auf, und in ihren Augen schien wieder jene tiefe Traurigkeit zu liegen, die mir schon bei unserer ersten |293| Begegnung aufgefallen war. »Ich glaube, ich habe genug gesehen!«
    Ich legte eine Hand auf ihren Arm. »Danke, Maria! Danke, dass du das alles hier mitmachst!«
    Sie wandte den Blick ab.
    Ich folgte Emily nach draußen. Das Licht erschien mir trotz des dichten Blätterdachs grell, als ich vor die Hütte trat. Die Vögel sangen, und der warme, freundliche Duft des Waldes erfüllte die Luft.
    Ein schmaler Pfad führte den Hang hinab. Wir folgten ihm.
    »Ich habe als Kind oft in diesem Wald gespielt«, erzählte Emily. »Meine Eltern haben mir verboten, allein hierher zu kommen, weil sie Angst vor Bären hatten. Aber ich habe das Verbot mehr als einmal ignoriert. Einen Bären habe ich nie zu Gesicht bekommen; ich glaube, es gibt hier seit Jahrzehnten keine mehr.«
    Ich sah mich ein wenig beunruhigt um. Dann musste ich über mich selbst schmunzeln. Ein Schwarzbär wäre, verglichen mit fliegenden Quallen, Riesenschildkröten oder einem wütenden Zyklopen, ein geradezu lächerliches Problem.
    »Maria scheint ziemlich sauer auf mich zu sein«, sagte ich.
    »Du musst ihr das nicht übelnehmen«, meinte Emily. »Sie hat Angst, dass du mich in Gefahr bringst. Sie glaubt, dass du egoistisch bist und mich ausnutzt. Ich habe ihr schon gesagt, dass das nicht stimmt, dass ich Eric genauso retten will wie du und dass sie sich keine Sorgen machen soll.«
    Tränen schossen mir in die Augen. Ich blieb stehen und nahm meine Freundin in den Arm. »Ich … ich werde nie vergessen, was du für mich … für uns tust, Emily!«
    |294| Sie streichelte meinen Rücken. »Ich weiß, Anna. Aber ehrlich gesagt tue ich es nicht nur für dich und Eric. Ich … ich habe einfach das Gefühl, dass ich es tun
muss
. Mir scheint, es ist meine Bestimmung, diesen Weg mit dir zu gehen.«
    Wir folgten schweigend dem Pfad, der sich in langen Schleifen den Hang hinabwand. Schließlich erreichten wir das Ufer des Sees, der still in der Nachmittagssonne dalag. Die bewaldeten Hänge der Berge auf der anderen Seite spiegelten sich im Wasser, das von einem leichten Wind gekräuselt wurde. Ein einzelnes Segelboot glitt lautlos vorüber. Es war ein idyllischer Anblick, der mir das Herz aufgehen ließ. Ich nahm mir vor, auf jeden Fall wieder hierherzukommen, wenn diese Krise meines Lebens überstanden war.
    Der Pfad, der von der Hütte hinabführte, endete an einem kleinen Bootssteg. Dort lag ein hölzernes Ruderboot mit Außenbordmotor vertäut. Es war mit einer grauen Persenning abgedeckt. Ein etwas breiterer Weg führte am Ufer entlang. Spuren im weichen Boden deuteten auf seine gelegentliche Benutzung durch Spaziergänger, Jogger und Radfahrer hin. Ich sah auch die Abdrücke von beschlagenen Pferdehufen.
    Wir spazierten ein Stück am See entlang und genossen die Nachmittagssonne. Eine Bewegung über mir ließ mich aufblicken. Ein großer Vogel

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