Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
Vom Netzwerk:
Rahmen halb geöffneter Fenster, sogar im Inneren der Autos, deren Fensterscheiben heruntergekurbelt waren.
    Ein würgendes Geräusch entfuhr mir. Ich sackte auf die Knie und übergab mich.
    Ich spürte Erics gealterte Hand auf meiner Schulter. »Göttliche Mutter!«, sagte er. »Was … was ist das für eine schreckliche Welt?«
    Es ist die Welt, in der du geboren wurdest, wollte ich sagen. Aber das stimmte nicht. Dieses New York war nicht realer als die Welt, in der die Krakentiere lebten. Es war eine alberne Horrorvision, von der Art, wie sie Hollywood |334| am laufenden Band produzierte – das billige Spiel mit der Urangst des Menschen vor dem Tod. Eric musste Dutzende solcher Filme gesehen haben. Kein Wunder, dass sie seine Phantasiewelt prägten.
    Trotz dieser Gewissheit drückte mir die Angst den Magen zusammen. Immerhin war ich noch vor kurzem durch diese Straßen gelaufen. Damals waren sie voller quicklebendiger Menschen gewesen. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete ich, dass Eric vielleicht irgendwie in die Zukunft sehen konnte – dass das, was ich sah, eines nicht mehr fernen Tages Realität werden würde. Ein mutierter Grippevirus vielleicht, der aus irgendeinem Gentechniklabor entwichen war … Die Vorstellung durchzuckte mich, dass ich mich mit der Krankheit, die das hier angerichtet hatte, infizieren könnte – vielleicht schon infiziert hatte.
    Ich wollte so schnell wie möglich hier weg. Eigentlich war es weniger die Angst vor einer imaginären Krankheit, die in mir einen fast übermächtigen Fluchtimpuls auslöste, und es waren auch nicht die zombiehaften Leichen. Es waren die kalten, unbarmherzigen Augen der Vögel, die sich an den leblosen Körpern weideten.
    Ich rappelte mich auf. »Dies ist nicht die richtige Welt«, sagte ich.
    Wir gingen zurück zu der Metalltür. Ich war erleichtert, als wir wieder auf der Ebene der Tore standen. Doch wohin sollten wir uns jetzt wenden? Ich hatte keine Ahnung.
    Ich sah mich um. Auf der unübersehbaren Ebene kam es vor allem darauf an, sich zu orientieren. Also führte ich Eric zurück zu dem weißen Marmorportal. Er hatte Mühe, die hohen Treppenstufen hinaufzuklettern, und ächzte und schnaufte dabei. Mir wurde plötzlich klar, dass er nicht mehr sehr weit würde laufen können.

|335| 36.
    Als wir die Plattform erklommen hatten, warteten wir auf den Einbruch der Nacht. Ich hatte die Hoffnung, erneut ein leuchtendes Tor zu sehen, doch nachdem die Neonröhren des Broadway für immer erloschen waren, gab es nichts mehr, was uns den Weg wies.
    In dieser mondlosen Nacht war der Himmel übersät mit Millionen Sternen. Es war wunderschön. Ich hatte erst einmal in meinem Leben einen solchen Sternenhimmel gesehen. Ralph war mit uns während eines Urlaubs in Mexiko nachts hinaus in die Wüste gefahren. Fernab jeder menschlichen Behausung hatten wir angehalten und einfach nur mit offenen Mündern nach oben geblickt. Eric war noch klein gewesen, höchstens drei Jahre alt, und nach meiner Erinnerung hatte er auf dem Rücksitz unseres Mietwagens geschlafen. Doch vielleicht war er zwischendurch aufgewacht, und der Blick aus dem Seitenfenster hatte sich so tief in sein Unterbewusstsein eingegraben, dass er ihn sein Leben lang mit sich getragen hatte.
    Ich versuchte, in der Ansammlung der Lichtpunkte vertraute Muster zu entdecken, doch die wenigen Sternbilder, die ich kannte, waren nicht vorhanden.
    »Es muss herrlich sein dort oben«, sagte Eric mit seiner schrecklich alten, krächzenden Stimme.
    Meine Kehle war zugeschnürt. Ich nickte nur.
    »Wenn du dorthin zurückkehren willst, göttliche Mutter …«
    Ich sah ihn verblüfft an. Im Sternenlicht wirkte sein |336| zerfurchtes Gesicht nicht mehr alt und schwach, sondern nur noch weise. »Zurückkehren? Wie meinst du das?«
    »Dort oben ist doch das Reich der Götter, oder nicht?«
    »Verdammt, Eric, ich bin keine …«, begann ich. Dann fiel mir der Kampf gegen den Zyklopen vor dem Tempel des Hades wieder ein. Ich hatte ihn getötet – mit nichts als meiner Wut.
    Ich blickte nach oben. Die Sterne schienen zum Greifen nah. Ich streckte meine Arme nach ihnen aus und hatte das Gefühl, dass ich ihnen tatsächlich näher kam.
    Ich sah an mir herab und erschrak zu Tode. Ich schwebte gut zehn Fuß über dem Podest in der Luft. Eric blickte zu mir auf. Sein alter, fast zahnloser Mund war zu einem Grinsen verzogen.
    Im selben Moment, in dem mir klar wurde, dass das, was ich sah, nicht sein konnte, fühlte ich ein

Weitere Kostenlose Bücher