Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
Vom Netzwerk:
wollte. Aber natürlich befolgte ich seinen Rat.
    Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich das regelmäßige Signal des Herzschlags auf dem kleinen Monitor leicht veränderte, wenn ich mit ihm sprach. Doch es gelang mir nie, mich selbst davon zu überzeugen, dass dies ein Beweis für eine Reaktion Erics auf meine Worte war.
    Da ich bald nicht mehr wusste, was ich erzählen sollte, las ich ihm vor. Zuerst die Kinderbücher, die er früher geliebt hatte, dann Jugendbücher für seine Altersgruppe, die ich zu diesem Zweck kaufte. Manchmal, wenn die Geschichten spannend waren, vergaß ich für einen Moment, dass er mich nicht hören konnte. Doch all meine Bemühungen änderten nicht das Geringste an seinem Zustand.
    Meine Hoffnung schwand mit jedem Tag, und ich konnte an Dr. Kaufmans Gesicht ablesen, dass auch er immer weniger an seine eigenen Beschwichtigungsformeln glaubte. Irgendwann kam er zu seiner täglichen Visite. Anstatt meinen Sohn zu untersuchen, nahm er sich einen Hocker und setzte sich mir gegenüber. Seine blaugrauen Augen fixierten mich. »Mrs. Demmet, so geht das nicht weiter. Sie können nicht immer nur hier sitzen. Wir machen uns ernsthaft Sorgen um Ihren Gesundheitszustand. Wenn Ihr Sohn wieder zu sich kommt, wird er Sie bei vollen Kräften brauchen. Sie müssen sich schonen!«
    »Mir geht es gut«, log ich.
    Anstatt zu antworten, holte er einen kleinen Spiegel hervor und hielt ihn mir vors Gesicht. Ich erschrak. Die Frau, die mir entgegenblickte, schien zwanzig Jahre zu alt. Mein Gesicht war eingefallen, meine Augen waren gerötet, die Lider schlaff, die Tränensäcke groß und dunkel. »Aber er braucht mich doch!«, sagte ich trotzig.
    Dr. Kaufman schüttelte den Kopf. »Sie können ihm nicht helfen, indem Sie sich selbst zugrunde richten. Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie so weitermachen, werden Sie in ein paar Tagen selbst in diesem Krankenhaus liegen. Aber glauben Sie bloß nicht, wir bringen Sie dann im selben Raum unter wie Ihren Sohn!«
    Die Drohung wirkte. Die Vorstellung, dass ich von ihm getrennt würde, war unerträglich. Ich nickte und erhob mich, um nach Hause zu gehen.
    Auf dem Flur, dessen Linoleum im kalten Neonlicht glänzte, traf ich Maria. Sie senkte den Blick, als sie mich sah. Ich spürte, dass sie etwas wusste – etwas, das mir Dr. Kaufman mit Rücksicht auf meinen Zustand nicht gesagt hatte. Ich ergriff ihren Arm. »Schwester Maria.«
    Sie blieb stehen, ohne mich anzusehen. »Ja?«
    »Wird er wieder aufwachen?«
    Sie antwortete nicht.
    »Bitte, Schwester. Sagen Sie mir die Wahrheit!«
    Endlich blickte sie auf, und ihre Augen glänzten von Tränen. »Er hat sich verloren«, sagte sie.
    Es waren weniger ihre Worte als diese seltsame, ehrliche Trauer, die mich traf wie ein Faustschlag. »Verloren? Was meinen Sie damit?«
    »Er findet den Weg zum Licht nicht.«
    Ich starrte sie verständnislos an.
    »Bitte … Sie tun mir weh!«
    Erst jetzt merkte ich, dass ich ihren Arm die ganze Zeit fest umklammert hielt. Ich ließ sie los. »Was … was soll das heißen?«
    »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.« Sie setzte ihren Weg fort.
    Ich folgte ihr. »Was denn für ein Licht? Was haben Sie damit gemeint?«
    »Bitte, nicht so laut! Wenn der Chef mitbekommt, dass ich schon wieder …« Sie stockte, als ein Arzt aus einem der Patientenzimmer kam und in unsere Richtung blickte.
    Ich begriff, dass ich sie angeschrien hatte. »Entschuldigung«, sagte ich leise. »Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen, aber …«
    Sie sah auf die Uhr. »In anderthalb Stunden habe ich Feierabend. Gegenüber dem Krankenhaus ist ein Starbucks. Warten Sie dort auf mich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um. Ich blickte ihr nach, bis sie im Schwesternzimmer verschwunden war.
    Es lohnte sich nicht, zwischendurch nach Hause zu fahren. Doch die Worte der Krankenschwester hatten mich so aufgewühlt, dass ich es auch nicht an Erics Bett aushielt.
    Ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Ein milder Aprilwind blies den schalen Benzingeruch der Großstadt fort und ersetzte ihn durch das frische, salzige Aroma des Atlantiks. Ich folgte diesem Duft, bis ich am Ufer des East River stand. Das Wasser der Meerenge schob sich träge dahin wie seit Jahrtausenden, unberührt von den Schicksalen der Menschen an ihren Flanken. Die ewige Kraft der Gezeiten, die die Strömung hier antrieb, hatte etwas Vertrauenerweckendes. Einen Moment lang durchzuckte mich der Impuls, ins Wasser zu springen und mich hinaus in den

Weitere Kostenlose Bücher