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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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Atlantik treiben zu lassen, vorbei an der fackeltragenden Statue, die unbegrenzte Freiheit versprach, und mich schließlich in den Weiten des Ozeans zu verlieren. Der Moment verging.

     
    Ich setzte mich auf eine Bank und starrte hinaus auf das Wasser. Nach ein paar Minuten kam ein Pärchen in Erics Alter vorbei. Das Mädchen wickelte einen Kaugummi aus, steckte ihn in den Mund und ließ das Silberpapier achtlos fallen. Dann blieb sie genau vor mir stehen, ohne mich oder ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie umfasste den Nacken des Jungen und drückte ihren zu stark geschminkten Mund auf seinen. Ich konnte sehen, wie der Junge die Augen aufriss. Das Mädchen löste sich von ihm, grinste und ging weiter. Der Junge blieb noch einen Moment stehen und kaute auf dem fremden Objekt in seinem Mund herum. Dann folgte er ihr mit einem Gesichtsausdruck, auf dem sich Überraschung und Glück spiegelten.
    Ich betrachtete das Silberpapier auf dem Gehweg und konnte den Anblick kaum ertragen. Eine irrationale Wut durchströmte mich. Wieso konnte dieses Pärchen so glücklich sein, während mein Sohn, dem Tode nahe, in einem Krankenhausbett lag? Ich bedauerte es beinahe, dass ich als Teenager aufgehört hatte, an Gott zu glauben. Jetzt hatte ich niemanden mehr, den ich für mein Unglück verantwortlich machen konnte.
    Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wandte mich langsam um. Auf dem Rand der Mülltonne saß eine Krähe. Ihre leeren schwarzen Augen musterten mich, ohne zu blinzeln.
    Die Krähe legte den Kopf schief, als versuche sie, meine Gedanken zu ergründen. Dann stieß sie sich ab, schlug kräftig mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Im selben Moment stob aus den umliegenden Büschen ein Dutzend schwarzer Vögel auf. Sie bildeten einen Schwarm, der einen Kreis über mir zog, bevor er sich in Richtung des fernen Ufers aufmachte, zu den Docks und Lagerhallen von Brooklyn. Ich blickte ihnen nach. Die Tiere erschienen mir einen Moment lang wie Vorboten düsterer Zeiten. Ich schüttelte den Kopf. Ich war nie abergläubisch gewesen, und jetzt war nicht der richtige Moment, um es zu werden.
    Ich stand auf und ging zurück in Richtung der Klinik. Ich wusste nicht genau, warum, aber das bevorstehende Treffen mit Maria gab mir neuen Mut. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich wieder Appetit. Vor der Auslage des Cafés überkam mich regelrechter Heißhunger. Ich bestellte mir einen Milchkaffee und ein großes Stück Käsekuchen und dann noch eins.
    Maria kam eine halbe Stunde zu spät. Sie entschuldigte sich nicht dafür. Ich bot ihr an, einen Kaffee und ein Stück Kuchen für sie zu bestellen, doch sie wollte nur ein Glas stilles Wasser. »Ich sollte eigentlich nicht hier sein«, sagte sie. »Dr. Kaufman hat mir ausdrücklich verboten, Privatgespräche mit den Angehörigen von Patienten zu führen.«
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind, Maria. Bitte erzählen Sie mir, wie Sie das vorhin gemeint haben.«
    Maria senkte den Blick. »Es ist meine Tante. Sie holt mich manchmal abends ab. Und dann … dann besuchen wir die Patienten. Diejenigen, die nicht bei Bewusstsein sind.« Sie zögerte. Ihr fiel es sichtlich schwer, sich mir zu öffnen; so als sei sie im Begriff, mir ein Verbrechen zu gestehen.
    Ich wartete einfach ab.
    »Sie ist eine Seelensprecherin«, sagte Maria nach einer Weile.
    »Eine Seelensprecherin? Was soll das sein?«
    Marias Blick hing an ihrem Wasserglas. »Sie kann mit den Seelen der Toten reden.«
    »Sie meinen, Séancen und so?«
    Maria nickte. »Aber sie kann auch in die Seelen der Lebenden sehen.«
    Ich kam mir plötzlich albern vor. Während mein Sohn wegen einer Überdosis Drogen im Wachkoma lag, saß ich hier in einem Café und unterhielt mich mit einer unerfahrenen Krankenschwester, die mir irgendwelchen esoterischen Humbug auftischte. Als Fotografin hatte ich mir einen kritischen, distanzierten Blick auf die Welt angewöhnt. Der schöne Schein war mein Lebensinhalt. Ich wusste nur allzu genau, wie viele Blender es gab. Wahrsager, Astrologen, Wunderheiler, Wanderprediger - eine ganze Branche lebte davon, Menschen etwas vorzugaukeln, ihnen in ihrem Leid und ihrer Verzweiflung falschen Trost zu verkaufen.
    Zorn stieg in mir auf. »Sind Sie gekommen, um mir diesen Mist zu erzählen? Arbeiten Sie im Krankenhaus, um Kunden für Ihre Tante zu gewinnen, denen sie dann für viel Geld ihr Schmierentheater vorspielt?«
    Maria blickte auf. In ihren sanften Augen lag wieder diese

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